Der letzte Aklt. 463
—— Ü
derart gesteigert, daß man glaubte, auch allein in einem Kriege gegen
Osterreich-Ungarn sich Erfolg versprechen zu können. Dazu kam die Auf-
fassung, Osterreich-Ungarn sei ein untergehender Staat, seine Armee
untauglich und zerrüttet, die Regierung habe nur deshalb in der Balkan-
krisio Frieden gehalten, weil sie den Krieg nicht wagte.
Trotzdem war die Balkanlage nach dem zweiten Kriege günstiger
für die Mittelmächte als nach dem ersten. Oie deutsche Politik hoffte auf
Rumänien und auf Griechenland, sie hoffte auch auf eine günstige Ent-
wicklung der deutsch-türkischen Beziehungen. Die Türkei hatte den größten
Teil ihres europäischen Besitzes verloren und damit nicht nur einen Ver-
lust, sondern auch eine gewisse Erleichterung erfahren, denn die großen
europäischen Gebiete, welche sie nicht verteidigen konnte und die fort-
während Anlaß zu Reibungen und Konflikten gewesen waren, gebörten
jetzt den Balkanmächten. Das türkische Gebiet war verkleinert worden,
aber seine Berteidigungslinie in Europa war ungeschwächt vorhanden;
sogar Adrianopel hatte die entschlossene Tatkraft Enver Beys dem Tür-
kischen Reiche zurückgeholt. Man sagte sich in Konstantinopel, jetzt sei
der Augenblick der Sammlung und der nationalen Neorganisierung ge-
kommen, jetzt oder nie. Dazu brauchte man Oeutschland, dessen Uneigen-
nützigkeit im Sinne des türkischen Interesses den Gegenstand unerschütter-
ten Vertrauens zu Konstantinopel bildete. Trotzdem die deutsche Regie-
rung sich vorher an einem internationalen Druck auf die Pforte behufs
Rückgabe Adrianopels an Bulgarien beteiligt hatte, gelang es, die alten
Beziehungen zu erhalten bzw. wiederherzustellen.
Nach den Krisen des ersten Balkankrieges begannen wieder jene
topischen Spmptome der „Entspannung“, die wir 1906, 1909 und An-
fang 1912 feststellen konnten. Im Frühjahr 1913 wurde eine, allerdings.
mißglückte Aktion dieser Art zwischen Osterreich-Ungarn und Rußland ein-
geleitet, ale die russischen Brobemobilmachungen die Lage gefährlich gemacht
hatten. Im Januar 1913 hielt dagegen der neue deutsche Botschafter
zu London, Fürst Lichnowsky, eine Rede, in der er überschwenglich die
deutsch-englische Freundschaft pries und eine Ara allgemeiner inter-
nationaler Freundschaft und Verständigung ankündigte. Englische Minister
dagegen, die im Parlamente gefragt wurden, ob für Großbritannien Ver-
pflichtungen beständen, an einem Festlandkriege teilzunehmen, und ob
Großbritannien bei den bisherigen Krisen Festlandhilfe angeboten habe,
antworteten mit den üblichen orakelhaften Wendungen. Als einen beson-
deren und schönen Beweis für die gebesserte Lage und für die erfokgreich
friedenerhaltende Stellung des Deutschen Reiches innerhalb dieser Lage
sah man den Besuch des Königs von England mit der Königin und des
russischen Zaren in Berlin zur Hochzeit der Tochter Kaiser Wilhelme (im