466 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914.
Erfahrungen, zu beurteilen, ob jene Annäherung Italiens an seine Bundes-
genossen lediglich Spiegelfechterei gewesen sei oder nicht. Auch die Er-
#5rterung dieser Frage bleibt für die besondere Borgeschichte des Krieges
vorbehalten. Hier mag nur gesagt sein, daß der Verfasser jene italienische
Politik für ernstpaft und als für beide Teile zweckmäßig auch heute noch
ansieht. Allerdings, und darin lag eine italienische innere Schwierigkeit, wäre
Stärkung der italienischen Rüstungen, und zwar eine zielbewußte erbeb-
liche Stärkung zu Lande wie zur See notwendig gewesen. Die deutsche
Politik Ztalien gegenüber ging auf alle Fälle von Gesichtspunkten aus, die
richtig waren, sofern man die Zugebörigkeit Italiens zum Dreibunde
überhaupt bejahte. Etwas anderes freilich ist die Frage, ob man damals
vielleicht militärisch den italienischen Autoritäten pränumerando zuviel
Vertrauen gezeigt und ihnen Einblicke gewährt hat, die sie bei der be-
kannten italienischen Indiskretion gegenüber Frankreich, Rußland und
England im Gegensatz zum deutschen Znteresse und der eigenen Bundes-
pflicht verwendet haben. «
Als während des Balkankrieges Österreich-Ungarn mit der Absicht
umging, dem serbischen Unwesen und der von Serbien kommenden stän-
digen Bedrohung des Gebietsbestandes der Doppelmonarchie mit den
Waffen ein Ende zu machen, hatte der italienische Premierminister Gio-
litti sich geäußert: Italie#n würde sich nicht verpflichtet halten, den Bünd-
nisfall dann anzuerkennen und Osterreich-Ungarn Waffenhilfe zu leisten.
Diese Tatsache ist erst während des großen Krieges bekannt geworden. Sie
ist wichtig, weil damals und nachher die Bestrebungen der Mittelmächte
eifriger denn je waren, die Beziehungen Italiens zum Oreibunde intimer
und fester zu machen. Man hielt diese Bemühungen also trotz jener
italienischen Absage nicht für nutzlo# und glaubte zur Hoffnung sich be-
rechtigt, daß Italien zukünftig in höherem Grade solidarisch mit dem
Dreibund sein werde. Nach dem Verrate von 1915 ist in Deutschland
die Meinung verschiedentlich vertreten worden, es sei auch nach dem
Balkankriege noch von Oreibunds wegen angezeigt gewesen, Italien
fallen zu lassen. Wir sind nach wie vor der entgegengesetzten Ansicht: die
deutsche Ztalienpolitik besonders der letzten Zahre war ansich richtig und zweck-
mäßig. Sie zum positiven Erfolge zu führen, war aber nicht von einem Tage
zum anderen möglich, sondern beanspruchte Zeit, Geschicklichkeit und Aus-
dauer. Die Ereignisse von 1914 haben die nötige Zeit nicht gelassen.
Die Entwicklung der Beziehungen der Balkanmächte unter sich und
zu den Großmächten nahm 1915 und während der ersten Hälfte des
Zahres 1914 ihren Fortgang und teils unerwartete Wendungen. In
Rumänien setzte von Rußland, von Frankreich und von Großbritannien
aus eine mit allen Mitteln betriebene Propaganda ein, um trotz der