Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Die Rackversicherung und ihre Auflösung. 21 
  
  
bekannt ist, haben Politiker und Laien meist seine Hauptbedeutung darin 
gesehen, daß er Rußland gebunden habe, und zwar Frankreich gegenüber. 
Biemarcks Autorität und außerordentlicher Gewandtheit sei es gelungen, 
dem Zaren und den russischen Staatsmännern diesen Vertrag als Lasso 
überzuwerfen und sie daran zu halten. Oie Gegengabe Deutschlands 
habe in der Sicherung Rußlands gegen einen Angriff von seiten Oster- 
reich-Ungarns bestanden. Auch in der öffentlichen Meinung ÖOsterreich- 
Ungarns wurde nach den Hamburger Enthüllungen diese Auffassung ver- 
treten, und zwar mit Erbitterung und Empörung: der Rückversicherungs- 
vertrag sei von seiten Deutschlands eine Hinterlist und Treulosigkeit gerade 
Osterreich-Ungarn als Bundesgenossen gegenüber gewesen. Ein reichs- 
deutsches Witzblatt jener Tage zeigte Bismarck, wie er zwei Schwerter 
schmiedete und seinem Sohne Herbert erklärte: das eine sei für Osterreich, 
das andere gegen ÖOsterreich. Noch heute hört man in Oeutschland viel- 
fach die Ansicht vertreten: der Rückversicherungsvertrag sei zwar ein 
WMeisterstück Bismarckscher Klugbeit, aber doch nicht ganz lopal gegen 
unseren Bundesgenossen Österreich-Ungarn gewesen. Es gab damale, in 
den innerpolitisch so bewegten Zeiten, Anfang der neunziger Jahre, 
genug Leute und Strömungen im Deutschen Reiche, in Osterreich-Ungarn 
und in Großbritannien, die das größte Interesse daran hatten, diese Dar- 
stellung und Auffassung volkstümlich zu machen. Ihr Bestreben ist merk- 
würdig vollkommen gelungen. Dabei hätte schon die einfache Uberlegung 
das Gegenteil zeigen können, wenigstens die stärksten Zweifel an der 
Richtigkeit erwecken müssen: daß Rußland aus Furcht vor einem Angriffe 
Osterreich-Ungarns sich zur Verpflichtung habe bewegen lassen, im An- 
griffökriege einer dritten Macht gegen Deutschland wohlwollend neutral 
zu bleiben. Ein Angriff Osterreich-Ungarns auf Rußland! — welchem 
Zaren, welchem russischen Staatsmanne wäre ein solches Schreckgespenst 
im letzten Orittel des neunzehnten Jahrhunderts wohl zuzutrauen ge- 
wesen? Im Falle aber, daß Rußland in Bulgarien einrückte, und Öster- 
reich Ungarn daraus den Casus belli machte, konnte Deutschland sich ent- 
scheiden, welche Partei es als den Angreifer betrachten wollte. Daraus 
ergab sich in Verbindung mit den Grundsätzen der deutschen Politik die 
Wahrscheinlichkeit, daß Bismarck keine Neigung hatte, die deutsche Armee 
um Burlgariens willen marschieren zu lassen. 
Rein, der Gefahrpunkt für Rußland lag bei Großbritannien, 1887 
ebenso wie 18841 Ein britisch-russischer Krieg war damals und auch noch 
später ein Ereignis, mit dem und auf welches in Europa vielfach gerechnet 
wurde. Brach ein solcher Krieg aus, so war es für Rußland nicht nur 
erwünscht, sondern von höchster Bedeutung: ein wohlwollend neutrales 
Deutsches Reich an seiner europäischen Landgrenze und an der Ostsee
	        
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