22 1. Abschnitt. Bon Rußland zu Großbritannien. 1887—1894.
zu haben. Eben dieselbe deutsche Aeutralitätsverpflichtung gab Rußland
die Sicherheit, daß Osterreich-Ungarn die Gebundenheit Rußlands wäh-
rend eines russisch-englischen Krieges nicht feindselig dem Russischen
Reiche gegenüber ausnutzen würde. Dem Zaren war der Indalt des
deutsch-österreichischen Bündnisses längst vor dessen Beröffentlichung
(Februar 1888) bekannt.
Durch den Rückversicherungsvertrag war Rußland gegen einen An-
griff seines schlimmsten Feindes gedeckt. Großbritannien seinerseits sah
sich der Möglichkeit beraubt, eine europäische Großmacht zu finden, die
geneigt gewesen wäre, vereint mit ihm und im Dienste der britischen
Interessen eine russenfeindliche Festlandspolitik zu treiben und womöglich
die Waffen zu ergreifen, wenn Großbritannien den Augenblick für günstig
bielt.
Der Reichskanzler v. Caprivi antwortete im Reichstage auf den Vor-
wurf: der Draht zwischen Berlin und Petersburg sei gerissen: dieser Draht
bestehe nach wie vor; er (Caprivi) habe nur dafür gesorgt, daß der Strom
nach Petersburg nicht zu stark werde und den anderen Leitungen nach
Wien und Rom den Strom nehme. Das war damals dem Reichstage
nicht verständlich, denn niemand wußte um den Rückversicherungsvertrag.
Wir finden die gleichen Andeutungen in den Denkwürdigkeiten des Fürsten
Hohenlohe, dem Caprivi sagte, daß das Bekanntwerden des Rückver-
sicherungsvertrages den Dreibund gesprengt haben würde. Als nach
Bekanntwerden des russisch-französischen Bündnisses die Enthüllungen
der „Hamburger Nachrichten“ über den Rückversicherungsvertrag die
politische Welt in Erregung versetzten, wurden von seiten der Regierung,
übrigens auch von österreichischer Seite, ähnliche Ansichten laut, und man
hob besonders hervor, daß im Rückversicherungsvertrage eine Fllopalität
Osterreich gegenüber gelegen babe. Bei kühler Betrachtung kann man
das — auch abgesehen von dem bereits Gesagten — heute nicht zugeben,
denn der Rückversicherungsvertrag mit seiner Verpflichtung zu wohl-
wollender Neutralität des einen, wenn der andere angegriffen werden
sollte, konnte Osterreich-Ungarn gegenüber nur dann illoyal sein, wenn
das deutsch-österreichische Bündnis ein Schutz- und Trutzbündnis gewesen
wäre. Es war und ist aber bekanntlich ein genau vertraglich nieder-
gelegtes Verteidigungsbündfiis. Hätte also Osterreich-Ungarn Rußland an-
gegriffen, so wäre Deutschland Osterreich-Ungarn gegenüber zur Hilfe
nicht verpflichtet gewesen, ja nicht einmal zu wohlwollender Aeutralität.
Für den einer gesunden österreichischen Politik fernliegenden Gedanken
eines Angriffs auf Rußland wäre das Deutsche Reich zur wohlwollenden
Neutralität Rußland gegenüber verpflichtet gewesen. Auch nachhber, als
der Rückversicherungsvertrag längst nicht mehr bestand, war nicht anzu-