Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Zwei neue Mächtegruppen. 27 
  
Man hat sich heute bei uns, besonders in den Kreisen der fanatischen 
Bismarckverehrer, bisweilen in den Glauben eingesponnen, daß der all- 
gemeine Respekt vor Bismarck und seiner bekannten Entschlossenheit zur 
Tat allein genügt hätte, um Großbritannien zum fortgesetzten Aachgeben 
zu bringen. Daran pflegt dann die Folgerung geknüpft zu werden: auch 
der nachbismarckische Staatsmann brauche nur angesichts irgendeiner 
Frage den rücksichtslosen Willen zur Tat zu zeigen, um Erfolg zu erzielen. 
Daß hierin ein Korn Wahrheit liegt, braucht nicht bewiesen zu werden, 
aber die Stärke der Bismarckschen Position war vor allem doch in der 
tatsächlichen politischen Lage enthalten, die seine Weisheit und Um- 
sicht in Europa allmählich geschaffen hatten. Ohne dies würde er, be- 
sonders in jener Zeit völliger Ohnmacht des Oeutschen Reiches zur See, 
auch durch allerbestimmtestes Auftreten und rücksichtslosen Willen zur 
Tat von den nüchternen Staatsmännern jenseits der Nordsee sicher wenig 
erreicht haben. Die empfindlichsten Punkte Großbritanniens: Indien, 
Agppten, der Orient und Mittelasien, waren durch die von Bismarck in 
Europa geschaffene Mächtegruppierung und das die Mächte verbindende 
oder ausschließende Vertragsnetz in gefährlicher Weise erponiert worden. 
Daher schrieb sich die bisweilen beinahe ängstlich anmutende Nachgiebig- 
keit der britischen Staatsmänner gegenüber den Wünschen des Groß- 
meisters der europäischen Politik, der alle Fäden in der Hand hielt und 
Oeutschlands Rücken für jede praktisch denkbare Eventualität gedeckt hatte. 
Aimmt man hierzu die bekannten persönlichen Abneigungen des 
Londoner Hofes gegen Bismarck, so bedarf es keiner besonderen Be- 
gründung, daß von England aus alles Denkbare getan wurde, um zur 
Unterwühlung von Bismarcks Stellung zu arbeiten. Das ist während der 
neunziger Jahre oft in Abrede gestellt worden, und der Reichskanzler 
v. Caprivi nahm schon in seinen ersten Reden Stellung dagegen. Nach 
seiner Persönlichkeit kann man annehmen, daß er guten Glaubens war 
und überzeugt, die Verhältnisse rein sachlich zu würdigen. Im Lichte der 
tatsächlichen Zusammenhänge aber halten solche Annahmen nicht stand. 
England hatte allen Grund zu wünschen und zu erstreben, daß Biemarck 
verschwände und mit ihm der deutsch-russische Neutralitätsvertrag. Bon 
diesem und vom Termine seines Ablaufes oder seiner Erneuerung hatte 
man um die Jahre 1889/90 in England Wind bekommen. 
General v. Caprivi — die Annahme liegt jedenfalls nahe — wird 
von London her die Suggestion auf sich haben wirken lassen, daß der 
deutsch-russische Rückversicherungsvertrag eine Zlloyalität gegen ÖOsterreich- 
Ungarn und eine Gefahr für das Bestehen des Dreibundes bedeute. Es 
ist sonst schlechtbin unverständlich, wie auf einmal diese Auffassung in 
den hohen politischen Kreisen des Oeutschen Reiches Boden gewinnen
	        
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