Zwei neue Machtegruppen. 31
schriftlich formuliert und unterzeichnet. Admiral Gervais trat an der
Spitze eines Geschwaders die Reise nach Kronstadt an, unmittelbar nach-
dem der Oeutsche Kaiser in England einen Besuch gemacht hatte. Der
Empfang der Franzosen in Kronstadt und in Peterhof spielte sich unter
demonstrativer Herzlichkeit und sogenannter Begeisterung ab. In Peter-
hof hörte der Zar stehend den Mordgesang der französischen Revolution,
die Marseillaise, an und trank auf das Wohl des Präsidenten der fran-
zösischen Republik. Der Zar telegraphierte an den Präsidenten Carnot:
„Die Anwesenheit des glänzenden französischen Geschwaders, das in
diesem Augenblick in Kronstadt ankert, ist ein neues Zeugnis für die tiefen
Sympathien, welche Frankreich und Rußland einen.“ Der Präsident der
Republik bediente sich in seiner Antwort genau derselben Redewendung:
„Tiefen Sympatbien, welche die beiden Länder einen.“
Ein russisch-französisches Bündnis war weder geschlossen worden,
noch wurde es damals geschlossen. Die neue Etappe, welche Admiral
Gervais'" Geschwaderreise zum Auedruck brachte, war der schriftliche Ab-
schluß der Entente zwischen den beiden Mächten, durch welche ihr vor-
heriges unverbindliches Freundschaftsverhältnis das politische Rückgrat
erhielt. In Frankreich erregte der Besuch ungeheure Begeisterung, und
der Minister Constant bezeichnete die neue Lage nicht unrichtig, als er
„die vollständige Wiederaufrichtung des Landes, sozusagen den Wieder-
eintritt Frankreichs in die Welt“, feststellte. Die Tage der französischen
Äsolierung waren nicht nur vorüber, sondern auch die Zeiten, wo keine
Großmacht mit dem geschlagenen, niedergeworfenen Lande, dessen innere
Zustände Mißtrauen und dessen Ohnmacht Bedenken einflößten, sich in
nähere Verbindung einlassen wollte. Man hat viel über die Auedrücke
französischer Freude und Begeisterung in den Zeiten des Russentaumels
gespottet. Sicher war die Zeit voll von Ubertreibungen, und das leb-
hafte, an den Wunden seines Ehrgeizes und seiner Eitelkeit leidende,
rachedurstige Bolk war in seinen Außerungen weder wählerisch, noch
kannte es Grenzen. Darüber kann aber kein Zweifel sein: Grund hatten
die Franzosen zur Zufriedenheit und zum Zubeln.
Die neue Republik war als bündnisfähige Großmacht nunmehr an-
erkannt, die französischen Staatsmänner, vor allem Ribot und de Frep-
cinet konnten die Früchte ihrer geschickten, ausdauernden und vor allem
geduldigen Arbeit endlich unter Dach bringen. Geduldig war diese Arbeit
wahrlich gewesen, besonders seit Mitte der achtziger Jahre hatte man
sich weder durch den Widerwillen des Zaren, noch durch das Bioèmarcksche
UÜbergewicht, noch durch die fortwährenden Katastrophen im Innern
Frankreichs vom Ziele abbringen lassen, mit Rußland in feste Beziehungen
zu gelangen. Jeder Anlaß war benutzt worden. Jules Ferry hatte um