Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Zwei neue Machtegruppen. 31 
  
schriftlich formuliert und unterzeichnet. Admiral Gervais trat an der 
Spitze eines Geschwaders die Reise nach Kronstadt an, unmittelbar nach- 
dem der Oeutsche Kaiser in England einen Besuch gemacht hatte. Der 
Empfang der Franzosen in Kronstadt und in Peterhof spielte sich unter 
demonstrativer Herzlichkeit und sogenannter Begeisterung ab. In Peter- 
hof hörte der Zar stehend den Mordgesang der französischen Revolution, 
die Marseillaise, an und trank auf das Wohl des Präsidenten der fran- 
zösischen Republik. Der Zar telegraphierte an den Präsidenten Carnot: 
„Die Anwesenheit des glänzenden französischen Geschwaders, das in 
diesem Augenblick in Kronstadt ankert, ist ein neues Zeugnis für die tiefen 
Sympathien, welche Frankreich und Rußland einen.“ Der Präsident der 
Republik bediente sich in seiner Antwort genau derselben Redewendung: 
„Tiefen Sympatbien, welche die beiden Länder einen.“ 
Ein russisch-französisches Bündnis war weder geschlossen worden, 
noch wurde es damals geschlossen. Die neue Etappe, welche Admiral 
Gervais'" Geschwaderreise zum Auedruck brachte, war der schriftliche Ab- 
schluß der Entente zwischen den beiden Mächten, durch welche ihr vor- 
heriges unverbindliches Freundschaftsverhältnis das politische Rückgrat 
erhielt. In Frankreich erregte der Besuch ungeheure Begeisterung, und 
der Minister Constant bezeichnete die neue Lage nicht unrichtig, als er 
„die vollständige Wiederaufrichtung des Landes, sozusagen den Wieder- 
eintritt Frankreichs in die Welt“, feststellte. Die Tage der französischen 
Äsolierung waren nicht nur vorüber, sondern auch die Zeiten, wo keine 
Großmacht mit dem geschlagenen, niedergeworfenen Lande, dessen innere 
Zustände Mißtrauen und dessen Ohnmacht Bedenken einflößten, sich in 
nähere Verbindung einlassen wollte. Man hat viel über die Auedrücke 
französischer Freude und Begeisterung in den Zeiten des Russentaumels 
gespottet. Sicher war die Zeit voll von Ubertreibungen, und das leb- 
hafte, an den Wunden seines Ehrgeizes und seiner Eitelkeit leidende, 
rachedurstige Bolk war in seinen Außerungen weder wählerisch, noch 
kannte es Grenzen. Darüber kann aber kein Zweifel sein: Grund hatten 
die Franzosen zur Zufriedenheit und zum Zubeln. 
Die neue Republik war als bündnisfähige Großmacht nunmehr an- 
erkannt, die französischen Staatsmänner, vor allem Ribot und de Frep- 
cinet konnten die Früchte ihrer geschickten, ausdauernden und vor allem 
geduldigen Arbeit endlich unter Dach bringen. Geduldig war diese Arbeit 
wahrlich gewesen, besonders seit Mitte der achtziger Jahre hatte man 
sich weder durch den Widerwillen des Zaren, noch durch das Bioèmarcksche 
UÜbergewicht, noch durch die fortwährenden Katastrophen im Innern 
Frankreichs vom Ziele abbringen lassen, mit Rußland in feste Beziehungen 
zu gelangen. Jeder Anlaß war benutzt worden. Jules Ferry hatte um
	        
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