Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

36 1. Abschnitt. Von Rußland zu Großbritannten. 1887—1894. 
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neben dem offenen Pulverfasse. Dabei konnte naturgemäß nicht ohne 
Wirkung bleiben, daß auf dem Platze Bismarcks Caprivi stand. Was 
Wunder, wenn der Wunsch den Gedanken zeugte, wenn man sich über 
die Sinnesrichtung des Zaren täuschte und glaubte, Alexander III. werde 
das „Gleichgewicht Europas“ wiederherstellen, indem er das Schwert 
Rußlands zöge, um Frankreich Elsaß-Lothringen zu erobern? 
Im FZahre 1892 fand eine Reihe von Festen in Frankreich statt, auf 
denen die siegesgewisse Revanchestimmung zum unverhüllten Ausdruck 
kam. Der Großfürst Konstantin von Rußland erschien auf einem Turner- 
und Studentenfeste in Nancy um dieselbe Zeit, wo der Zar mit dem Deut- 
schen Kaiser in Kiel eine flüchtige Begegnung hatte. In Nancy waren auch 
tschechische Turner erschienen, die sangen: „Und gäbe es so viel Oeutsche 
wie Teufel in der Hölle, Rußland ist mit uns. Ist jemand gegen uns, 
Frankreich schmettert ihn zu Boden.“ Bei der Ankunft des Großfürsten 
entfaltete man eine Fahne mit der Inschrift: „Rußland, 1870“. Oie 
Gedächtnisfeiern der großen Schlachten von 1870 riefen ähnliche Kund- 
gebungen hervor, unter einer Beteiligung und mit einer Begeisterung, 
die keinen Zweifel über die Gespanntheit der Atmosphäre lassen konnte. 
Als schließlich im Herbste des Jahres die Jahrhundertfeier der Revolution 
stattfand und der Präsident Carnot im Pantheon erschien, sangen die 
Chörc, von der Musik begleitet, die Strophe aus der Marseillaise „Amour 
sacré de la patrie, soutiens, onduis nos bras vengeurs!“ (Geheiligte Liebe 
zum Baterlande leite und stärke unseren Arm zur Nache.) 
Bei einer solchen Stimmung und Willensrichtung war klar, daß man 
die in den französisch-russischen Reden und Depeschenwechseln ständig 
wiederholte „gemeinsame Aufrechterhaltung des europäischen Gleich- 
gewichtes“ und die „Verteidigung gemeinsamer Znteressen“ als eine 
„offensive“ Berteidigung auffaßte. Es ist bemerkenswert, daß die Entente 
von 1891 unter den Klängen des politischen Leitmotivs: Aufrechterhaltung 
des europäischen Gleichgewichtes, Verteidigung der gemeinsamen Inter- 
essen abgeschlossen wurde. Was sollte das bedeuten? Auf französischer 
Seite sicherlich einen Angriffskrieg gegen Deutschland bei erster Gelegen- 
heit, denn die Franzosen erachteten das europäische Eleichgewicht durch 
das Deutsche Reich und seine Bündnisse, vor allem durch ein deutsches 
Elsaß-Lothringen, ale gestört, und die Tatsache allein sei genügender Grund, 
um das „GEleichgewicht“ mit allen Mitteln wiederherzustellen. Aber den 
Inhalt des damaligen Entente-Bertrages und des Bündnisses von 1893, 
welches auf der Grundlage der Abmachungen von 1891 und 1892 abge- 
schlossen wurde, ist nie etwas anderes verlautet, als daß der Vertrag diese 
Hauptmomente entbalte: Erhaltung des europäischen Gleichgewichtes 
bzw. dessen Wiederherstellung und gemeinsame Verteidigung gemein-
	        
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