Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Gefahr stand unmittelbar vor der Tür. Und da kam gerade der Mann in 
diesem entscheidenden Augenblick, der einzige in Deutschland, der den Mut, 
die Kraft, den nicht zu beugenden Willen und die Genialität besaß, Preu- 
Bens und damit Deutschlands Zukunft zu retten. 
König Wilhelm — wir werden später noch manches davon zu reden 
haben — war ein Mann von großen Herrschergaben, vor allem ohne Eitel- 
keit und Eifersucht, voll Würde und Treue, begabt mit gesundem Urteil und 
großer Menschenkenntnis. 
Jener Augenblick, als er den Entschluß des Rücktritts gefaßt hatte, zeigt 
aber wiederum, daß auch dieser König nicht vermocht haben würde, die 
Stetigkeit des monarchischen Systems aufrechtzuerhalten. Im Gegenteil 
würde er mitoffenen Augen Preußen auf die schiefe Ebene einer liberalen oder 
gar demokratischen Verfassung haben abgleiten sehen müssen. Eben das 
wäre eingetreten, was gerade die preußische Monarchie verhindern mußte: 
die Abhängigkeit des Staats vom Parlament, von den Parteien. Der König 
selbst, wäre er nicht zurückgetreten und mit einem anderen Ministerpräsi- 
denten, nicht mit Bismarck, geblieben, hätte sich ebenso auf den Weg des 
Parlamentarismus begeben und den Staat im liberalen oder gar demokrati- 
schen Fahrwasser weiterführen müssen, trotz der ihm eigenen hervorragen- 
den persönlichen und Herrschereigenschaften. Man kann — und noch viel 
weniger konnte man damals — nicht die englischen Verhältnisse zum Ver- 
gleich heranziehen, denn die Deutschen sind keine Engländer, und gerade 
diejenigen Eigenschaften, die England auch mit seinem Parlamentarismus 
nach außen und im Innern stark und national und einig sein ließen, fehlten 
den Deutschen. 
Die demokratische und hinter ihr die schon im Zeichen der Namen Lasalle 
und Marx wachsende international-sozialistische Arbeiterbewegung schwoll 
an. Wäre Preußen damals demokratische Republik, vielleicht einige Jahr- 
zehnte noch mit einem vom Parlament abhängigen König, geworden, so 
würde die Entwicklung in ganz Deutschland sich im selben Sinne vollzogen 
haben, und die deutsche Zukunft wäre für absehbare Zeit dahingewesen, 
Deutschland hätte auf die Geltung einer Macht oder gar einer Großmacht 
verzichten müssen, war es doch schon die fortschrittliche Absicht, man 
müsse Preußen ‚den Großmachtkitzel‘‘ austreiben. Die schönsten Lieder 
vom freien deutschen Rhein würden Frankreich nicht gehindert haben, sich 
im deutschen Westen zu nehmen, was es wollte. Solche nachträglichen Vor- 
aussetzungen sind um so weniger übertrieben schwarz, wenn man an den 
deutschen Gesamtzustand von damals denkt. Ohne eine starke Monarchie 
oder einen deutschen Napoleon wäre ein starkes nationales Deutschland 
nicht denkbar gewesen. 
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