Fortschrittspartei. Die unkundigen Bevölkerungen der Bundesstaaten wur-
den von den Agitatoren aller Art zur Meinung gebracht, Bismarck wolle
überhaupt die Religion abschaffen, ihre Bekenner unterdrücken und ver-
folgen.
Andererseits benutzten die geschworenen Feinde des Christentums, die
sämtlichen Vertreter atheistischer Anschauungen, die günstige Gelegenheit
zu einer hemmungslosen Hetze gegen evangelische und katholische Christen,
besonders gegen die Geistlichkeit. Bismarck wurde wieder als der Führer des
Atheismus und als Feind des konfessionellen Friedens ausgerufen. 1874 unter-
nahm ein Mitglied des Zentrums, Kullmann, einen Mordanschlag auf den
Kanzler und verletzte ihn am Handgelenk. Als er den Verhafteten im Ge-
fängnis nach seinen Gründen fragte, erklärte dieser, der Grund sei Bismarcks
Kampf gegen die katholische Kirche. Dem Zentrum sagte Bismarck im
Reichstage: ‚Mögen Sie sich lossagen von diesem Mörder, wie Sie wollen, er
hängt sich doch an Ihre Rockschöße fest, er nennt Sie seine Fraktion!“
Am preußischen Hofe und beim Kaiser selbst war Bismarcks Kampf
durchaus nicht beliebt, wobei die Kaiserin einen nicht unbedeutenden Ein-
fluß ausübte.
Inzwischen war der streitbare Papst Pius IX. gestorben, Leo XIII. folgte
ihm, erbot sich sofort nach seiner Wahl zur Beilegung des Kampfes und bat
in einem Brief Kaiser Wilhelm um dessen Hilfe. Dieser antwortete freund-
lich, und so nahm der Abbau des Kampfes seinen Anfang. Daß Bismarck
darauf einging, begründete sich mit darauf, daß seine politische Beziehung
zur Nationalliberalen Partei sich wegen seines Überganges zum Schutzzoll
nicht mehr aufrechterhalten ließ und deshalb die bisherige Zusammenarbeit
des Kanzlers und der Partei auch für den Kulturkampf unmöglich wurde.
Damit hatte der Kanzler keine genügende Stütze mehr im Parlament, er hatte
auch sonst nur Gegner und Feinde.
Fragen wir uns zurückblickend: ob der Kulturkampf Bismarcks, in
diesem großen Rahmen gesehen, schlimme Wirkungen gehabt, dem Deut-
schen Reiche und dem deutschen Volke schweren Schaden getan hat?
Darauf kann folgendes geantwortet werden:
Das Scheitern des Kampfes war politisch und ist geschichtlich zu be-
dauern. Die Frage aber, ob der Kulturkampf hätte unterlassen werden
können, muß verneint werden. Die Kirche hatte ihn begonnen, zusammen-
arbeitend mit den Jesuiten. Man hat behauptet, der Kulturkampf habe das
einige deutsche Volk gespalten, Unfrieden und Haß gesät; hätte Bismarck
den Kampf nicht geführt, so würde Frieden und Eintracht geherrscht haben!
Diese Behauptung wird durch die Tatsache widerlegt, daß Kirche, Jesuiten
und die ultramontane Partei die Gründung des Reiches zum Anlaß ihres
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