Die von Bismarck verfaßte Kaiserliche Botschaft weist in ihrer Kürze
zwei leitende Motive auf: neue und dauernde Bürgschaften für den inneren
Frieden des Vaterlandes — und: Beistand für die Hilfsbedürftigen, auf den
diese Anspruch haben. Die letzten Worte zeigen das soziale Gefühl in der
indirekten Betonung, daß es sich nicht um Wohltätigkeit und Wohltat han-,
delte — sondern um eine Pflicht, eine Forderung der Gerechtigkeit.
In den Debatten um jene Vorlage des Jahres 1889 wurde dem Reichs-
kanzler von Rednern der Freisinnigen Partei gesagt: die Sozialdemokraten
werde er mit den sozialen Gesetzen nicht gewinnen. Der Kanzler erwiderte:
der Abgeordnete verwechsele zwei Dinge, nämlich die sozialdemokratischen
Führer und die sozialdemokratischen Massen. Mit den Gesetzen hoffe man
die wirklich berechtigten Unzufriedenheiten der Massen zu mildern, und
wenn das nicht hülfe, ‚und wenn wir fechten müssen zur Beruhigung unseres
Gewissens‘‘. Was aber die sozialdemokratischen Führer anlange und mitdem
Worte: Sozialdemokratie diese meine, erklärte der Kanzler: ‚Sie lebt mit
uns im Kriege, und sie wird losschlagen, gerade so gut wie die Franzosen, so-
bald sie sich stark genug dazu fühlt, und diese Stärke vorzubereiten, ist die
ganze Aufgabe ihrer Politik.“
Mit sehr geringer Mehrheit gingen die Gesetze durch, die Sozialdemo-
kraten stimmten dagegen, sie wollten unter keinen Umständen für eine Vor-
lage stimmen, die geeignet sein könnte, die Unzufriedenheit der Massen zu
verringern. Diese Taktik hat die Sozialdemokratische Partei ohne Ausnahme
durch die folgenden Jahrzehnte hindurch durchgeführt: bei jeder der spä-
teren Erweiterungen der sozialen Gesetzgebung, bei allen anderen Gelegen-
heiten, z. B. einer Luxussteuer, einer Sektsteuer usw., und diese Taktik hat
sich stets bewährt. Man sagte den Massen: Alle sogenannten sozialen Ge-
setze sollen dazu dienen, euch zu täuschen und unsere siegessichere Partei
zu schwächen. Man gibt euch Vorspiegelungen, und wenn es hoch kommt,
Almosen, lediglich, um euch um alles zu betrügen, was ihr zu beanspruchen
habt. Das aber kann euch nur ‚‚der große Kladderadatsch‘“, der gewaltsarne
Umsturz bringen! In der Tat brachte die soziale Gesetzgebung nicht den
Erfolg, daß die Sozialdemokratische Partei in ihrer Werbekraft für die
Wähler abnähme; im Gegenteil: Haß und Unzufriedenheit waren stärker
und die sozialen Mißstände waren groß. Zu bedenken ist auch, daß, ab-
gesehen von der Unfallversicherung und der Krankenversicherung, die
anderen nicht sogleich empfunden wurden, sondernder Mehrheit der lebenden
Generation als klägliche Gaben der Zukunft galten. Am wirksamsten aber
war und blieb das Argument: die sozialen Gesetze sollen der Sozialdemo-
kratischen Partei lediglich den Wind aus den Segeln nehmen, um euch, ihr
werktätigen Massen, in der Knechtschaft des Staates und des Industrie-
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