Das Beispiel Stöcker zeigt, daß Bismarck dem Hofprediger, dem Christen
und dem glühend vaterländischen Mann annähernd ebenso gegenübertrat
wie den sozialdemokratischen Umstürzlern. Auch dies beweist, daß sein
Standpunkt unabhängig von der Partei war. Er ging, freilich wohl auch stark
durch seinen Sohn Herbert in diesem Punkt beeinflußt, ernsthaft mit dem
Gedanken um, Stöckers Christlich-Soziale Partei ebenfalls unter sein Sozia-
listengesetz zu stellen, weil diese, und an erster Stelle Stöcker selbst, die Be-
gehrlichkeit der Massen nach unerfüllbaren Dingen reize und außerdem den
Haß gegen die Juden, und zwar gerade gegen die reichen Juden, erregte.
Bismarck sah diereichen Juden als nützlich (!) für das Wirtschaftsleben
des Staates an; man dachte damals allgemein so. Es war wohl dem alten
Kaiser und der Rücksicht auf ihn zuzuschreiben, daß Bismarck es nicht zu
diesem Schritt gegen den Hofprediger hat kommen lassen.
In dem Buch ‚‚Der Rembrandt-Deutsche‘ erzählt der Verfasser, Momme
Nissen, von dem Besuch Julius Langbehns — des Verfassers des damals be-
rühmten Buches ‚Rembrandt als Erzieher‘‘ — bei Bismarck:
„Es fiel ihm auf, wie Bismarck in Varzin die Tagelöhner, zu denen er
sprach, trotz aller Freundlichkeit wie eine untergeordnete, hörige Menschen-
schicht behandelte und so von ihnen redete. Das erschien Langbehn, dem
Schleswig-Holsteiner, der gewohnt war, daß auf dem Lande der Freie dem:
Freien diente, nicht eigentlich germanisch,‘‘ — Wäre Julius Langbehn da-
mals auf den großen Gütern seiner schleswig-holsteinischen Heimat bekannt
gewesen, so würde er da bei den Gutsherren selten eine andere Haltung ge-
troffen haben, und vollends in den östlichen Provinzen Preußens. Wir
zitieren den Rembrandt-Deutschen, weil er mit seiner auf Bismarck bezüg-
lichen Bemerkung die allgemein damals geltenden Verhältnisse nur auf
Bismarck bezog.
Die sozialen Verhältnisse der Landarbeiterschaft, der Gutszugehörigen
überhaupt und ihre Behandlung ließen sehr viel und oft alles zu wünschen
übrig, nicht zum wenigsten die Lebenshaltung. Das Wohnungselend des
Landarbeiters spottete der Beschreibung, übrigens ein Menschenalter später
kaum weniger. Ebenso stand es mit der Entlohnung und der persönlichen
Behandlung. Zur Frage wurden diese Verhältnisse auf dem Lande erst all-
mählich. Das Großstadtelement: die Masse fehlte, die spärlichen Verkehrs-
verhältnisse taten das Ihrige, und das preußische Wahlrecht machte unmög-
lich, daß sozialistische Abgeordnete, auch wenn sie Gegner der Sozialdemo-
kratie, national und sozial waren, in das preußische Parlament gewählt
wurden. Erst in den Jahren ihres mächtigen Aufstiegs vermochte die Sozial-
demokratie einige Plätze im Preußischen Landtag zu gewinnen. Auch die
sozialdemokratischen Anstrengungen für den Reichstag hatten auf dem
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