Full text: Von Potsdam nach Doorn.

zehnte erlebte eine neue Hochflut in unsympathischerer Form als früher. 
Vor 1870 war es die Sehnsucht nach dem Reich, ganz wesentlich idealisti- 
schen Inhalts, nachher eine gewisse parvenühafte Dicktuerei und Groß- 
sprecherei. Dazu war der sogenannte Milliardensegen gekommen, den Bis- 
marck mit Recht als erstickend für den Völkerfrühling wirkend beurteilte, 
erstickend, fügen wir hinzu, für den Idealismus der Reichsbegeisterung. Man 
kann und muß es positiver ausdrücken: ungenannt begann der Materialis- 
mus, nicht nur der Weltanschauung, sondern auch der Lebensführung, alle 
Schichten zu durchdringen; erinnert sei an ‚die Gründerjahre‘‘. 
Die unausgesetzten Parteikämpfe bedrohten nicht allein in den Parla- 
menten selbst die äußere Einigkeit, sondern sie hinderten auch das Ent- 
stehen und Wachsen des Einigkeitsgefühls; es hieß: Die Partei über alles! 
Wenn meine Partei nicht siegt, so ist mir alles andere einerlei! Bismarck 
hatte sich von Anfang an gezwungen gesehen, bald mit der einen, bald mit 
der anderen Partei zusammenzuarbeiten, um jeweilig eine Mehrheit für seine 
Ziele zu erhalten. Wir haben gesehen, wie er zum Beispiel für seine neue 
Schutzzollpolitik sich von der Nationalliberalen Partei verlassen sah und 
sich genötigt fand, mit dem Zentrum zu arbeiten, weil er jene neue Wirt- 
schaftspolitik als lebensnotwendig für die Wirtschaft des Reiches erkannt 
hatte. So wurden in diesem Falle, wie in anderen, aus politischen Freunden 
und Mitarbeitern Feinde und Gegner, ganz abgesehen von den Parteien, für 
die Bismarck von vornherein der Erzfeind war. Der Kanzler hatte schon 
recht, als er sich vor dem Reichstag den bestgehaßten Mann im Deutschen 
Reiche nannte, er, der das Reich geschaffen hatte. Sein hoffnungsvolles 
Wort: ‚Setzen wir Deutschland in den Sattel, reiten wird es schon können“ 
hat er später hypothetisch (,‚Gedanken und Erinnerungen‘) selbst in kaum 
verhehlter Bitterkeit zurückgenommen: ‚Ich habe nie gezweifelt, daß das 
deutsche Volk, sobald es einsieht, daß das bestehende Wahlrecht eine schäd- 
liche Institution sei, stark und klug genug sein werde, sich davon zu be- 
freien. Kann es das nicht, so ist meine Redensart, daß es reiten könne, wenn 
es erst im Sattel säße, ein Irrtum gewesen.‘ Bismarck tat seinen berühmten 
Ausspruch 1867 im Reichstag des Norddeutschen Bundes. — 
Die deutsche Bevölkerung, die politischen Parteien und deren Führer, die 
Presse, der größte Teil der Vereine und Organisationen, der patriotisch 
redende und Feste feiernde Bürger, sie alle fühlten sich stolz als sichere 
Reiter im Sattel des Reichs und zogen daraus als Konsequenz: die lärmende, 
selbstgetällige Überhebung, ausgedrückt in dem vulgären Wort: Uns kann 
keiner! Ob mehr oder minder geräuschvoll ausgedrückt — diese prahlerische 
Eingebildetheit war keineswegs nur in den Jahren nach dem Siebziger 
Kriege, selbst an sehr hohen Stellen, vorhanden, sondern noch in den letzten 
178
	        
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