Jahren vor dem Weltkriege. Es äußerte sich besonders in derGeringschätzung
der Wehrkraft anderer Mächte, in erster Linie Frankreichs, überhaupt: das
Deutsche Reich beherrsche jetzt Europa, wir seien überall ‚„obenauf“.
Eine andere Meinungsrichtung war: Bismarck habe zwar in den sechziger
Jahren eine geniale und deshalb erfolgreiche Außenpolitik getrieben, er habe
das Reich errichtet und diesem die vorherrschende Stellung in Europa ge-
geben, aber für innere Politik tauge er nichts. Auch werde er mit jedem ver-
fließenden Jahre älter, der Gipfel seiner Leistungsfähigkeit sei vorbei, er
wolle Alleinherrscher in Deutschland sein und in allem recht haben. Das
könne nicht immer so weitergehen, auch wolle die neue Generation endlich
ihre Anschauungen zur Geltung bringen, indem sie im Ausbau des Reiches
führe; das sei ihr Naturrecht. Ferner: Bismarck habe selbst gesagt, Deutsch-
land werde reiten können, wenn es im Sattel sitze, deshalb wollten nun die
Jungen endlich ans Ruder kommen. Bismarck sei ein Kind seiner Zeit, wie
jeder Mensch, dieser Lebenstatsache müsse auch er Rechnung tragen und
weichen. Ein neues politisches Geschlecht sei herangewachsen und wolle
sich nicht mehr am Gängelband leiten lassen. Dies Geschlecht könne als
‚Deutschland‘ im Sinne Bismarcks reiten. Als Bismarck entlassen war,
wurde aus solchen und ähnlichen Selbstüberheblichkeiten das sehr bewußt
geformte Wort: Die Deutschen seien ein ‚politisch reifes Volk‘ nunmehr ge-
worden. Kühn und selbstbewußt müsse und könne es die deutsche Ent-
wicklung nunmehr selbst in die Hand nehmen und führen, der Schritt zur
freien Demokratie, zum Parlamentarismus sei nicht allein unausbleiblich,
sondern ein Recht des deutschen Volkes.
Das war ein Teil der Tragik, die sich in Bismarck und um ihn erfüllte: als
preußischer Ministerpräsident hatte er die Demokratie und ihren Boden,
zugleich ihre Waffe, den Parlamentarismus, besiegt, um die Monarchie zu
der Autorität und Macht zu machen, die mit Erfolg nicht angefochten werden
konnte. Nur gegen das Parlament konnte er den Weg nach Königgrätz und
Sedan gehen. Aber von 1867 an war es nicht mehr Preußen allein, und zur
Einigung genügten ihm nicht die Fürsten allein, sondern er glaubte ‚‚der da-
mals stärksten der freiheitlichen Künste‘‘, des allgemeinen Wahlrechts, zu
bedürfen, um den Gedanken der deutschen Einheit in der Masse aller Deut-
schen volkstümlich und unvergänglich zu machen. Aber kaum — 1871 —
verwirklicht, kehrte sich dieser Gedanke gegen ihn, den revolutionären
Schöpfer des Reichs, in immer allseitigerem Haß und, bei einigen Parteien
ausgesprochen, bei anderen nicht, eben gegen die deutsche Einheit und gegen
das Reich, in tieferem Sinne dieses Begriffes gefaßt. So hing an sich und
vollends für Bismarcks in das Dunkel der Zukunft sich versenkenden Blick
alles davon ab, ob der neue Kaiser fähig sei, zu erkennen, wo die Gefahren
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