keit entbehre. Dann bestand noch ein, vielleicht das am schwersten wiegende
Moment: der Druck, den die Persönlichkeit und Tätigkeit Bismarcks auf
alle ausübte, die steigen wollten, sich zurückgesetzt fühlten, sich als Träger
der Zukunft berufener meinten als der Schöpfer des Reichs. Wenige Jahre
nach der Entlassung Bismarcks sprach der Verfasser dieser Schrift einem
persönlich und politisch unantastbaren konservativen, innerpolitischen
Hauptmitarbeiter des konservativen Parteiorgans als junger Mensch sein
Bedauern und seine Empörung über die Entlassung des Kanzlers aus und
fragte den Baron Ungern-Sternberg, wie denn das nur möglich gewesen sei.
Darauf sagte dieser: Bismarck sei doch schon zu alt gewesen, und besonders
habe man allgemein den ungeheuren Druck nicht mehr ertragen können, der
von Bismarcks Persönlichkeit, sich immer verstärkend, geltend gemacht habe.
1890 während der Monate der Krisis sagte Bismarck seinem Sohn auf dem
Rückweg von einer Ministerratssitzung: ‚Die sagen auch alle: uff, sobald wir
fort sind !“
Bismarck liebte schon früher, den Satz eines französischen Schriftstellers
zu zitieren, der von einem Minister sagte: ‚Er mußte dem ungesättigtenHaß
schließlich erliegen, dem jeder Minister unterliegt, der lange im Amt bleibt!“
Dieser Haß häuftesich auf beinahe allen Seiten von Jahr zu Jahr höher und
giftiger auf. Im selben Grade verschärften sich die Kämpfe des Parlaments,
der Parteien gegen den Kanzler. Die gegnerische Presse arbeitete, sobald
Thronwechsel in Sicht zu sein schien, mit dem Argument: Schuld des Kanz-
lers sei, daß das parlamentarische Leben nicht mehr funktioniere, Bismarck
werde eben alt. In seiner inneren Politik habe er schon immer verhängnisvolle
Fehler gemacht und die innere Einheit Deutschlands in ihrem Werden ge-
hindert. Nun aber sei er nicht einmal mehr fähig, die auswärtige Politik zu
meistern. Das demokratische Parteiblatt brachte einen aufsehenerregenden
Artikel aus der Feder eines der giftigsten Opponenten Bismarcks: E. Rich-
ter, mit der Überschrift: „Es gelingt nichts mehr.“
Unaufhörlich wurde das Leitmotiv variiert: alles im Deutschen Reiche
und Volke dränge nach Fortschritt und Entwicklung, ein Kanzler, er möge
so bedeutend sein, wie er wolle, von über siebzig Jahren könne eben nur ein
Hindernis sein und sei außerstande, mit der neuen Zeit Schritt zu halten.
So flüsterte und klang es immer stärker werdend von allen Seiten, bald
mehr, bald minder ausdrücklich formuliert: wenn nur erst der junge
Kaiser ohne Bismarck die Zügel in die Hand genommen hätte! Und es
klang auch angenehm in den Ohren Wilhelms II.
Abgesehen von den Sozialdemokraten, versuchte ungefähr jede Partei,
dem künftigen Kaiser, ihm pränumerando, zu schmeicheln, und mehr oder
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