Full text: Von Potsdam nach Doorn.

mit eingreifen und durch Reformen die Lage sozial gestalten und die Ver- 
bitterung der Arbeiterschaft beheben. 
Auch heute ist von Interesse, sich daran zu erinnern, daß damals das 
Zentrum, die Polenpartei und die Sozialdemokratie geschlossen gegen das 
Gesetz stimmten. Das Zentrum besonders schob als Grund für seine Ab- 
lehnung seine ‚‚prinzipielle‘“ Stellung gegen Ausnahmegesetze vor, vertrat 
außerdem den Standpunkt: soziale Hilfstätigkeit sei Sache der Kirche und 
diese zu unterstützen Sache des Staates. 
In zweieinhalbjährigen Abständen erfolgte dann Verlängerung des Sozia- 
listengesetzes bis zum Jahre 1888, dem Jahre des zweimaligen Thron- 
wechsels und der sich dann bald anschließenden Kanzlerkrisis. 
Die viermal geglückte Verlängerung des Sozialistengesetzes stieß dieses 
Mal auf parlamentarisch unübersteigliche Hindernisse. Diese müssen er- 
wähnt werden, weil sie ein charakteristisches Licht auf die politischen An- 
schauungen im damaligen Deutschland werfen. 
In den vorhergehenden Ausschußberatungen des Reichstags ergab sich 
eine tiefgehende Meinungsverschiedenheit zwischen Fraktionen, die im 
übrigen für Verlängerung des Sozialistengesetzes waren. 
Die nationalliberale Fraktion wollte für zeitlose Verlängerung des Sozia- 
listengesetzes eintreten, jedoch jenen wichtigen Punkt des Gesetzes aus- 
schalten, der die Ausweisung solcher Agitatoren aus Orten vorsah, die als 
besonders gefährdet erschienen. Hier vertraten die Nationalliberalen mit 
den ablehnenden Fraktionen den prinzipiellen Standpunkt, daß diese Be- 
stimmung dem Grundrechte der Freizügigkeit jedes Deutschen wider- 
spreche. Die konservative Fraktion, die hier auf der anderen Seite stand, 
wandte sich an Bismarck mit der Frage, ob die Reichsregierung das Sozia- 
listengesetz auch ohne jene Forderung gutheißen würde, und machte von 
einer solchen Erklärung des Kanzlers ihre Zustimmung zur Erneuerung des 
Gesetzes abhängig. Bismarck antwortete auf diese Frage jedoch nicht, und 
das Gesetz wurde abgelehnt und mußte demnach mit dem Herbst 1890 außer 
Kraft treten. 
Als Grund seines Schweigens hat Bismarck verschiedenen Persönlich- 
keiten gegenüber angegeben: er und der Bundesrat hätten mit dem einen 
Teil des Reichstagsausschusses schon seiner Stellung wegen nicht verhandeln, 
vollends nicht nachgeben können. Hätte der Reichstag in der Vollversamm- 
lung die Erneuerung des Sozialistengesetzes unter Ablehnung jenes einen 
Punktes bewilligt, so würden die verbündeten Regierungen wohl in der Mei- 
nung zugestimmt haben: etwas sei besser als nichts. Dahinter stand aber ein 
anderer Gedanke des Kanzlers, den er nach seiner Entlassung zu dem da- 
maligen württembergischen Ministerpräsidenten geäußert hat: Unter solchen 
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