Full text: Von Potsdam nach Doorn.

der Wochenlohn für sechs Tage ebenso hoch sein müsse wie vorher für 
sieben Tage. In Summa vertrat der Kanzler den Standpunkt, der Arbeiter 
müsse freie Entscheidung haben. 
Über diese und ähnliche Fragen ist die Zeit längst hinweggegangen. Rück- 
blickend wird man den Standpunkt des Kaisers und der Kreise um ihn an 
sich gelten lassen müssen. Das Motiv freilich, das den Kaiser hier zu einem 
möglichst raschen Vorgehen für diese Arbeiterschutzgebung maßgebend war, 
die nicht zu verwechseln ist mit der sozialen Gesetzgebung Bismarcks unter 
Wilhelm I., dieses Motiv war zunächst ein rein taktisch politisches: 
Die Reichstagswahlen standen für den Februar 1890 bevor, Bismarck sah 
voraus, daß sie schlecht ausfallen würden, der Kaiser fürchtete für die dann 
sich ergebenden Zustände und vielleicht notwendig werdenden energischen 
Entschlüsse. Er glaubte, durch den Arbeiterschutz große Mengen der Hand- 
arbeiterschaft von der Sozialdemokratie fort und in eine der Regierungs- 
parteien hineinzubringen. Sein Gedanke war, auf diese Weise die Politik 
Bismarcks öffentlich als unrichtig feststellen zu können. Demselben Zweck 
sollte der Versuch des Kaisers dienen, seinen Arbeitschutzplan in zwei 
öffentlichen Erklärungen in pathetischen Worten bekanntzugeben. Das 
müsse noch vor dem Schluß des Reichstags in dessen letzter Sitzung ge- 
schehen, so erklärte er im Ministerrat. Der Kaiser wollte ferner eine öffent- 
liche Verkündung: daß die Regierung sich mit dem abgemilderten Sozia- 
listengesetz zufrieden geben werde. Hierzu schreibt Bismarck: 
„No erklärte ich auch in diesem Falle, daß die verbündeten Regierungen 
sich die Zukunft erschweren würden, wenn sie schon jetzt die Flagge strichen 
und ihre eigenen Vorlagen verstümmeln wollten Wir würden sowieso 
dem nächsten Reichstag ein schärferes Gesetz vorlegen müssen. Der Kaiser 
protestierte gegen das Experiment, eine Pause, einen Zwischenraum ent- 
stehen zu lassen: er dürfe esim Anfang seiner Regierung keinenfalls zu einer 
Situation kommen lassen, in der Blut fließen könnte ; das würde ihm nie ver- 
ziehen werden. Ich entgegnete, ob es zu Aufruhr und Blutvergießen käme, 
hinge nicht von Seiner Majestät und unseren Gesetzesplänen ab, sondern 
von den Revolutionären, und ohne Blut würde es schwerlich abgehen, wenn 
wir nicht mehr, als ohne Gefahr zulässig, nachgeben und irgendwo stand- 
halten wollten. Je später der Widerstand der Regierung eintrete, desto ge- 
waltsamer werde er sein müssen.“ 
Hier haben wir in wenigen Worten den Standpunkt Bismarcks. Zum 
Schluß jener Sitzung erklärte er: ein solcher freiwilliger Rückzug im Kampfe 
gegen die Sozialdemokratie werde der erste Schritt bergab auf dem bisher 
aufsteigenden Wege sein, in der Richtung auf eine vorläufig bequeme, aber 
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