So kann es keinen Zweifel unterliegen, daß der Kanzler nach unblutiger
oder blutiger Niederwerfung der Sozialdemokratie mit der ihm gewohnten
Energie eine auch im Sinne der Arbeiterschaft positive soziale Politik ge-
trieben haben würde.
Im selben Jahre, 1889, also in der Zeit, als der Kaiser diesem und jenem
und sogar im Staatsrat erklärte: die Sozialdemokratie möge man nur ihm
überlassen, er werde schon mit ihr fertig werden, sie sei eine ephemere Er-
scheinung und so weiter, sagte Wilhelm II. zu einer Deputation jener strei-
kenden westfälischen Bergleute unter anderem: ‚Denn für mich ist jeder
Sozialdemokrat gleichbedeutend mit Reichs- und Vaterlandsfeind. Merke
ich daher, daß sich sozialdemokratische Tendenzen in die Bewegung mischen
und zu ungesetzlichem Widerstand anreizen, so würde ich mit unnachsicht-
licher Strenge einschreiten und die volle Gewalt, die Mir zusteht, und die ist
eine große, zur Anwendung bringen.‘‘ — Väterliche Ermahnungen fügte er
hinzu: „Kündigungsfristen einzuhalten, Kontrakte nicht zu brechen, Ruhe
und Ordnung nieht zu stören.“
Daß, wie alle, auch jener Streik von Sozialdemokraten geführt wurde und
organisiert worden war, konnte keinem Zweifel unterliegen. Sprach der
Kaiser also von ‚sozialdemokratischen Tendenzen‘, so mußte er unmittelbar
gegen die Träger dieser Tendenzen vorgehen, er tat es aber nicht, sondern
hielt eine Rede in seiner Anschauung eines ‚‚populären Absolutisrnus‘‘, denn
er sprach nicht von seiner Regierung, sondern von sich selbst, dem eine
„große Gewalt‘‘ zur Verfügung stehe. Um die Seele des Arbeiters wollte er
„Tingen‘“.
Knapp zwei Jahre nachher — wir greifen zur Vervollständigung des Bildes
etwas vor — sagte der Kaiser bei einer Rekrutenvereidigung in Potsdam:
„Ihr habt Mir Treue geschworen, das — Kinder meiner Garde — heißt, ihr
seid jetzt Meine Soldaten, ihr habt euch Mir mit Leib und Seele ergeben. Es
gibt für euch nur einen Feind, und der ist Mein Feind. Bei den jetzigen sozia-
listischen Umtrieben kann es vorkommen, daß Ich euch befehle, eureeigenen
Verwandten, Brüder, ja Eltern niederzuschießen — was Gott verküten
möge —, aber auch dann müßt ihr Meine Befehle ohne Murren befolgen.“
Das war schwerlich ein Weg, der zur Gewinnung der Seelen der Arbeiter
führen konnte und ebensowenig der Rekruten, die vor ihm standen, und aller
anderen, die im ganzen Lande Jahr für Jahr vereidigt wurden. Für die
Sozialdemokratie bildeten solche kaiserlichen Reden ein glänzendes Propa-
gandamaterial: Da seht ihr den bluttriefenden Militarismus! Schon macht
der Oberste Kriegsherr euren Söhnen zur Pflicht, auf euch zu schießen! —
Und zur jüngeren Generation gewandt: Denkt bei allen euren militärischen
Schießübungen daran, daß ihr eure Eltern und Brüder niederschießen sollt!
10* 201