Bismarcks Nachfolger, General Caprivi, stellte in seinen Reden über die
sozialistische Frage und Gefahr seinen Standpunkt dahin fest:
„Die Regierung kann niederhalten und niederschlagen, damit ist die
Sache aber nicht gemacht; die Schäden, vor denen wir stehen, müssen von
innen heraus geheilt werden. — Wir müssen uns nicht angewöhnen, diesen
Arbeiterstand immer mit einem pessimistischen Blick anzusehen, wir dürfen
die Hoffnung nicht aufgeben, auch diese Leute wiederzugewinnen.“
Der General von Caprivi erkannte im allgemeinen wohl die Wichtigkeit
der sozialen Frage, war sich aber nicht klar über das Wesen der Sozialdemo-
kratie, erkannte in ihr nicht den Todfeind. Ein Sondergesetz gegen die
Sozialdemokratie wollte er nicht. Ein von der preußischen Regierung dem
Abgeordnetenhause vorgelegtes Sondergesetz wurde abgelehnt, zur Auf-
lösung des Reichstags konnte man sich nicht entschließen. Innerhalb der
rechtsstehenden Parteien wurde noch allerhand anderes erwogen, zum Bei-
spiel Änderungen des Wahlrechts, Einführung der Wahlpflicht und so
weiter. Auch am Gedanken eines Staatsstreichs kam man nicht vorbei, und
ein damals sehr bekannter Schriftsteller vertrat den Standpunkt der Ein-
führung einer Diktatur des Kaisers auf einige Jahre. Von anderen Seiten
wurden Gedanken geäußert, die an jene Vorschläge erinnerten, die Bis-
marck dem Kaiser gemacht hatte.
Wir wissen nicht, ob der Kaiser in seinem Innern an jene Unterhaltungen
mit Bismarck und dessen Vorschlag damals gedacht hat und an die Voraus-
sage des alten Kanzlers, daß es entweder früher oder später zur Gewalt
kommen oder mit einer Niederlage der Monarchie enden würde.
Genug, es geschah nichts; die Sozialdemokratie konnte ungehindert ihren
Siegeslauf fortsetzen. Wieder waren die Reaktionen des Kaisers typisch:
Durch alle Zeitungen ging ein Wort des Kaisers, das nicht dementiert
worden ist. Anläßlich eines Gesprächs über soziale Reformen sagte der
Kaiser: ‚Davon könne vorläufig keine Rede mehr sein in Ansehung der
politischen Zustände: die Kompottschüssel für den Arbeiter sei voll.‘“ In
engerem Kreise, aber ohne Rücksicht auf die umgebende Dienerschaft,
pflegte der Kaiser sich sehr zwanglos auszudrücken. In seinem Buch ‚Zwölf
Jahre am deutschen Kaiserhof“ berichtete sein derzeitiger Hofmarschall,
Graf Zedlitz:
„Bei einer der letzten Mittagstafeln kam die Rede auf einige der vor-
gekommenen Verbrechen, dann ging man über zu der zunehmenden Roheit
im Volke. Und da gerade einige Scharfmacher die günstige Gelegenheit er-
griffen hatten, in ihrem Sinne zu wirken, so ging die impulsive Natur des
Kaisers weiter und, an die Schwierigkeit denkend, ein Volk mit dieser zu-
nehmenden Roheit zu regieren, sagte er: ‚Ja, ohne einen ordentlichen Ader-
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