Ein Jahr nachher zeigte sich die erste sichtbare Folge der Nichterneuerung
des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages in Gestalt des Besuches
einer französischen Flotte in Kronstadt. Stehend hörte der Zar die Mar-
seillaise, die Hymne der Revolution, an und telegraphierte an den Präsi-
denten der Französischen Republik, das Kronstädter Fest sei ein neues
Zeichen für die tiefe Sympathie, die die beiden Länder einigte. — Es war der
Vorbote des formalen Abschlusses des Zweibundes. Der Kaiser seinerseits
hielt eine Rede: wie früher schon müßten deutsche und englische Truppen
im Kampfe zusammenstehen. Diese Rede nahm die englische Presse äußerst
übel wegen Frankreich, und in Rußland entstand über dieselbe Rede
schwere Verstimmung gegen Deutschland wegen des damals sehr gespannten
englisch-russischen Verhältnisses, wegen des Vordringens Rußlands in
Mittelasien, wodurch England seine indische Grenze bedroht fühlte.
Das dänische Königshaus, gleichermaßen verwandt mit dem russischen
und dem englischen, vermittelte geschickt: der nachmalige König Edward
beseitigte die gefährliche Spannung, das durch Wilhelm II. Politik isolierte
Rußland warf sich der Französischen Republik in die Arme, die russisch-
deutschen Beziehungen spannten sich noch schärfer.
Die große politische Wende, infolge der Nichterneuerung des Rück-
versicherungsvertrages, hatte sich in der Hauptsache hiermit vollzogen, um
sich nunmehr weiterzuentwickeln. Großbritannien bedurfte, nachdem der
Zweck erreicht war, der deutschen Freundschaft nicht mehr, was schon im
Jahre 1893 in der englischen Presse mit großer Heftigkeit zum Ausdruck
kam. Man hielt dem Deutschen Kaiser u. a. vor, er möge bei seiner GroßB-
mutter außenpolitischen Unterricht nehmen und politischen Takt lernen.
Als im Jahre 1894 der Reichskanzler von Caprivi — jedoch nicht wegen
seiner Außenpolitik — zurückgetreten war, hatten die vier Jahre seiner Amts-
führung die Stellung des Deutschen Reiches in der Welt erheblich geschwächt,
das deutsche Prestige war in hohem Maße gesunken. Schwerpunkt und Au-
torität Europas lagen nicht mehr in Berlin, und die Politik Berlins stand
nicht mehr im Rufe des Weitblicks, der Entschlossenheit und Zielsicherheit.
Die Klugheit der Londoner Diplomatie hatte Bismarcks Bündnissystem
durch ihre Einflußnahme auf den Kaiser zur Auflösung gebracht. Freilich,
der Dreibund stand und wurde terminmäßig erneuert, aber auch und gerade
für ihn bedeutete das Fehlen Bismarcks eine Entwertung, die nur hätte ver-
hindert werden können durch gleiche Festigkeit und Klarheit und dadurch
erworbene Autorität des Deutschen Reiches als Vormacht im Dreibunde mit
den beiden Bundesgenossen, die einander haßten und nur durch eine ebenso
starke wie geschmeidige Hand zusammengehalten und gleichzeitig gelenkt
werden konnten.
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