tation im Lande dagegen trieben. In den parlamentarischen Kämpfen hatte
Caprivi gesagt: er sei ein Mann ohne Ar und Halm. Bismarck gab daraufhin
für den Bund der Landwirte die Parole aus: Für Ar und Halm!
Demokratie und Liberalismus sangen laut das Lob Wilhelms II. als eines
wahrhaft modernen Monarchen und Menschen, der vorurteilslos, offenen
Auges und mit höchstem Verständnis genial die Zeichen der Zeit erkannt
habe. Freilich sei dieser Schritt zu den Handelsverträgen natürlich nur ein
Anfang, und eines Tages müsse der wirtschaftlichen Freiheit auch die poli-
tische Freiheit des so lange von Bismarck tyrannisch unterdrückten deut-
schen Volkes herbeiführen. Jetzt sei dieses doch ‚‚politisch reif‘ genug, um
sich selbst zu regieren, zum mindesten allmählich sich zum ‚‚parliamentary
government‘ zu entwickeln.
Die Sozialdemokratie wertete mit Recht die Wirkungen der Handels-
verträge als großen politischen Erfolg: je mehr das Landvolk verarmte, je
häufiger die Konkurse und Versteigerungen ländlicher Anwesen wurden,
desto mehr Menschen strömten als entwurzeltes Proletariat der Sozial-
demokratie zu; dasselbe galt von der nicht geringen Menge der handwerk-
lichen Betriebe, die bisher durch die Kaufkraft des Landwirts ihre Existenz
mehr oder minder selbständig hatten fristen können. Die zurückgehende
Kaufkraft des Landwirts machte sich ebenso folgerichtig für die Industrie
und den bodenständigen Zwischenhandel zwischen Stadt und Land steigend
bemerkbar. Vor allem aber war es das Sinken der landwirtschaftlichen Pro-
duktion und die Abnahme der landwirtschaftlichen Bevölkerung.
Das war die schiefe Ebene der Wirtschaftspolitik des kaiserlichen Kurses;
in einem hochkapitalistischen Deutschland, das als Ganzes an Jahres-
einnahmen und Volksvermögen ständig und zunehmend wuchs, ebenso wie
die durchschnittliche Lebenshaltung.
Auf die persönliche Stellung des Kaisers zum Judentum wird noch zurück-
zukommen sein. Hier muß hervorgehoben werden, daß die ‚‚rettende Tat‘‘
Caprivis die Macht und den Reichtum des Judentums in Deutschland, die
bereits bis dahin so groß war, stark vergrößert hat. Es ist hinzuzusetzen, daß
Wilhelm II. ebenso, wie es damals beinahe ganz allgemein der Fall war, den
Juden eben als deutschen Staatsbürger betrachtete, nicht als Juden. Auch
Bismarck stand ja auf diesem Boden. Freilich hat er in allen Fragen und
Forderungen, die er als schädlich für Volk und Staat ansah, dem Drängen
auch des Judentums niemals und in nichts nachgegeben. Daß der Nach-
folger Bismarcks auf diesem Gebiet keinerlei besondere Ansicht hatte
braucht kaum erwähnt zu werden. Abgesehen von dem General Graf Walder-
see, war in diesen Kreisen überhaupt kaum Gegnerschaft und Kenntnis des
Judentums zu finden. Der Kaiser war als Prinz dem Judentum gegenüber
247