Full text: Von Potsdam nach Doorn.

nerlei politische Bestrebungen dort. Gleichwohl wußte man in Berlin, daß 
Frankreich im Einverständnis mit Großbritannien seinerseits das Ziel hatte: 
Marokko zur französischen Kolonie zu machen, dem Sultan alle Autorität 
zu nehmen und die ‚offene Tür‘ zu schließen. 1905 hatte gezeigt, daß diese 
Frage zur Frage von Krieg und Frieden werden mußte und nach Groß- 
britanniens festem Plan werden sollte. Spätestens seit 1905, eigentlich 
schon früher, hätten der Kaiser und seine Berater zum mindesten sich über 
die von ihnen einzuschlagende Politik klar sein müssen. Ein Entweder-Oder 
war eine Notwendigkeit. In Berlin herrschte aber Uneinigkeit: der Geheimrat 
von Holstein wollte Krieg, der Chef des Generalstabes Graf Schlieffen soll 
derselben Ansicht gewesen sein. Ob Holstein es wirklich wollte, ist die Frage. 
In der Tat sprach, auch wenn wir heute die damalige Lage prüfen, man- 
ches dafür, es auf einen Krieg ankommen zu lassen: Frankreich war nicht 
bereit, in Rußland herrschte die Revolution, sein Krieg in Ostasien war ver- 
loren, ein schneller, vollständiger deutscher Sieg auf dem Lande wäre sicher 
gewesen. Auf der anderen Seite stand: englische Blockade, Wegnahme des 
deutschen Handels und der überseeischen Kapitalien, bei längerem Kriege 
auch Wegnahme der Kolonien. Der deutsche Flottenbau befand sich in den 
ersten Anfängen. 
Der Kaiser wollte keinen Krieg, wollte einen solchen unter allen Um- 
ständen vermeiden. Auch das war eine Politik, die, mit Recht und Grund, 
vertreten werden konnte: das enorme materielle Aufsteigen Deutschlands, 
seines Handels, seiner Industrie, seiner Wirtschaft überhaupt, der Ausbau 
der Flotte, die Vermehrung der Bevölkerung, das alles waren Ursachen und 
Gründe, die sich hören ließen. Die Ansicht, daß Deutschland mit jedem 
neuen Friedensjahr an Gesamtgewicht in der Welt zunähme und sein wirt- 
schaftlicher Einfluß in Europa gewaltig wachse, das alles waren Tatsachen. 
Vielleicht liegt die Frage nicht fern, ob der Standpunkt des Kaisers: unter 
keinen Umständen Krieg zu führen, ohne angegriffen zu werden, nicht in der 
Linie der Politik und auch der grundsätzlichen Ansicht Bismarcks gelegen 
habe: es sei unter allen Umständen unverantwortlich, einen Krieg zu führen, 
etwa in dem Gedanken: später werde derselbe doch kommen, ob man wolle 
oder nicht, jetzt aber seien die Umständegünstiger als je, und sie würden mit 
der Zeit immer schlechter werden. Man könne (hat Bismarck gemeint) ‚‚der 
Vorsehung nicht in die Karten sehen‘. Später ist dazu das Wort geprägt 
worden: man wisse wohl, wie man in einen Krieg hineinkomme, nicht aber, 
wie man wieder aus ihm herausgelange. 
Niemand wird die Richtigkeit solcher Überlegungen bestreiten können. 
Während der marokkanischen Angelegenheit stand Bülow, übrigens seiner 
13  Reventlow: Von Potsdam nach Doorn 989
	        
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