Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Bismarck noch unter Wilhelm II. haben solche Regungen auch nur einen 
Augenblick den geringsten Einfluß gewonnen. 
Eine Unruhe allerdings war vorhanden, nämlich in Gestalt der marxi- 
stischen und demokratischen Bewegung. Das Steigen der sozialdemokra- 
tischen Macht in Deutschland aber wurde von England und Frankreich mit 
größter Genugtuung verfolgt, denn darin erkannte man unschwer eine Quelle 
der Schwächung und Zerrüttung des Reiches und des Deutschtums. — Die 
machtlosen nationalen Kritiker in Deutschland waren, zum Unglück, nicht 
imstande, eine ‚Unruhe‘ — freilich eine solche anderer Art —- hervorzu- 
rufen. Im übrigen freute man sich in Deutschland des wachsenden Wohl- 
standes auf international-kapitalistischer Basis und machte sich die, ein- 
seitig gesehen, bis zu einem gewissen Grade plausibel klingende, im Grunde 
genommen gefährlich-falsche Theorie zurecht: Nur keinen Krieg, denn wenn 
wir den Frieden behalten, wird Deutschland bald die erste Wirtschaftsmacht 
in Europa sein, und niemand wird mehr Krieg mit uns führen wollen! 
Als Staatsmann war der englische König dem Deutschen Kaiser weitüber- 
legen. Wilhelm II. fehlten die wichtigsten Eigenschaften des Staatsmannes. 
Nur ein Punkt sei vorweggenommen: König Eduard, dem als König, nach 
der Verfassung seines Landes, keinerlei Einmischung in den Bereich ‚‚der 
Regierung Sr. Majestät des Königs“ zustand, hat gleichwohl die Außen- 
politik seines Reiches im Sinne des Begriffs geführt: mit stärkster, ge- 
schmeidiger Initiative, ohne große Worte, überlegt und konsequent. Er 
scheute sich keineswegs, hervorzutreten, so auf seinen Reisen nach den ver- 
schiedenen Höfen Europas, er hielt auch Reden, konferierte mit fremden 
Ministern, aber ohne Lärm und Prahlerei, mit Takt und Psychologie. Eben- 
sowenig scheute er sich gelegentlich, dem Deutschen Reiche, und besonders 
seinem Neffen, seine Mißbilligung und Abneigung zu zeigen, so, wenn er — 
ohne vom Deutschen Kaiser Notiz zu nehmen — wochenlang in Marienbad 
zur Kur weilte und Cl&menceau empfing, oder auf dem Gebiet des Deutschen 
Reichs seine Schwester, die Mutter des Kaisers, besuchte, ohne sich um den 
Neffen zu kümmern. Seinen offiziellen Besuch als König, nach dem Tode 
seiner Mutter, hat Eduard VII. erst kurz vor seinem Tode gemacht. 
Es ist menschlich begreiflich, daß der Deutsche Kaiser, auch abgesehen 
von der rein persönlichen Abneigung gegen Gen königlichen Onkel, durch 
dessen lückenlose Erfolgsreihe sich noch mehr gegen ihn verbitterte, um so 
tiefer, als Eduard gerade diejenigen wesentlichen Fähigkeiten besaß, die 
dem Kaiser fehlten. ‚Der glänzendste Mißerfolg des Jahrhunderts!‘ war 
die Bezeichnung, die der König von England für seinen kaiserlichen Neffen 
hatte. 
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