atlantischen Küste Marokkos in Besitz nehmen, und das müsse England als
eine Gefährdung seiner Lebensinteressen ansehen. Es folgten Auseinander-
setzungen in der Öffentlichkeit, in diplomatischem Notenwechsel und im
Deutschen Reichstag. Wieder hieß es: Um Marokko keinen Krieg! Kiderlen-
Waechter behielt mit seiner Prognose des Verhaltens des Kaisers nicht recht.
Der deutsche Reichskanzler von Bethmann-Hollweg versuchte vergeblich,
das Gesicht des Deutschen Reiches zu wahren. Es war wieder eine schwere
Niederlage der deutschen Politik und Diplomatie und eine noch schwerere
des deutschen Ansehens in der Welt. Wieder hatte der Kaiser durch Äuße-
rungen nach Paris verlauten lassen: um Marokko führe er keinen Krieg.
Damit war dem politisch-diplomatischen Plane Kiderlen-Waechters das
Fundament zertrümmert.
Im Vergleich zu diesem Verhalten des Kaisers tritt die Ungeschicklichkeit
der Entsendung des Kanonenboots an die atlantische Küste Marokkos, die
den Engländern einen äußeren Anlaß für ihr Eingreifen bot, zurück. Der ur-
sprüngliche Plan des Staatssekretärs: endgültige Preisgabe Marokkos gegen
jene große Kompensation, war im Grundgedanken richtig. Richtig war eben-
falls der Standpunkt, an dieser Forderung, auf jedes Risiko hin, festzuhalten.
Sobald dies letztere nicht geschah, fiel von selbst alles andere zusammen.
Man kann nur vorher Festgestelltes wiederholen: entweder man liquidierte
die deutschen Marokko-Rechte stillschweigend oder man bestand auf der
einmal erhobenen Forderung. Das Schädlichste, was gemacht werden konnte,
aber war die Wiederholung des großen Paukenschlags zu Anfang und das
Zurückweichen, sobald man sah, daß England und Frankreich die Charakter-
schwäche der deutschen Politik erkannt hatten und in London erklärt
wurde: Gut, dann also Krieg; eine Haltung, die, nach den Vorgängen, 1911
ebenso zu erwarten war wie 1905, 1906, 1908. — Nachträgliche Ent-
hüllungen eines englischen Parlamentsmitgliedes bewiesen, daß Großbritan-
nien 1911 während jener Spannung alle Vorbereitungen zum sofortigen Los-
schlagen getroffen hatte und Schwärme britischer Torpedoboote ungesehen
die Bewegungen der deutschen Seestreitkräfte verfolgt hätten.
Diese sechs Marokko-Jahre bildeten nicht nur kein Ruhmesblatt für die
politische Leitung Deutschlands, sondern verstärkten den Pessimismus in
der deutschen Bevölkerung. Alle, die noch ein Interesse für die europäische
Stellung des Deutschen Reiches hatten, fragten sich: Wie wird es weiter-
gehen, wie wird es enden ?, undrückblickend : Was bleibt noch übrig von dem
Erbe, das Bismarck dem Kaiser und seinen Kanzlern hinterlassen hat, und
von der Achtung, die Deutschland bis 1890 genoß ?
Im selben Jahre 1911 griff Italien das tripolitanische Gebiet der Türkei an
und nahm zwölf ägäische Inseln in Besitz, unter Ausnutzung jener Ab-
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