Full text: Von Potsdam nach Doorn.

machung mit den Westmächten und Rußland. Das verbündete Deutsch- 
land war erst im letzten Augenblick benachrichtigt worden. So entstand für 
das Deutsche Reich, angesichts seiner engen freundschaftlichen Verbindung 
mit dem Türkischen Reiche, eine schwierige und heikle Lage. Um diese und 
ihre Folgen zu erläutern, müssen wir weiter ausholen, besonders auch des- 
halb, weil die deutsche Türkei- und Orientpolitik das eigenste Werk, der 
Lieblingsplan des Deutschen Kaisers war. 
Die Orientbolitik des Kaisers 
Im Herbst 1889 fand in Anwesenheit des Deutschen Kaisers und der 
Kaiserin die Hochzeit der Schwester des Kaisers mit dem Kronprinzen von 
Griechenland in Athen statt. Im Anschluß daran fuhren Kaiser und Kaiserin 
nach Konstantinopel zum Besuch des Sultans Abdul Hamid. Dieses Er- 
eignis erregte großes mißfälliges Aufsehen in Europa, zahllose Fragen, Be- 
unruhigung und Argwohn bei den europäischen Großmächten wurden laut. 
Die Planung des Besuches war schon längere Zeit vorher bekannt gewesen. 
Der russische Zar Alexander III. hatte im selben Frühjahr bei seinem Be- 
such in Berlin an Bismarck die Frage gerichtet: ‚Et Constantinople ?‘“ Bis- 
marck antwortete dem Zaren, daß die Reise des Kaisers in keiner Weise eine 
Änderung des im Orient bestehenden Zustandes bezwecke. Damit gab sich 
der Zar anscheinend zufrieden. 
Im selben Jahre erklärte die Deutsche Regierung ausdrücklich, ihre Po- 
litik sei auf Erhaltung der Türkei gerichtet. Erläuternd sei bemerkt, daß die 
Politik Rußlands, Englands und Frankreichs ‚grundsätzlich‘ auf Ver- 
nichtung, jedenfalls auf größtmögliche Schwächung des Türkischen Reiches 
und seiner Autorität am Bosporus und den Dardanellen gerichtet war; jede 
dieser Mächte von ihrem eigenen Interessenstandpunkt aus. Die Verschie- 
denheiten und Gegensätze dieser Interessen benutzte der Sultan Abdul 
Hamid, ein sehr geschickter und schlauer Staatsmann, um sie gegeneinander 
auszuspielen und so die Unabhängigkeit der Türkei innerhalb ihrer Grenzen 
zu erhalten ; also ein Gleichgewicht, in diesem Sinne gesehen, freilich ein sehr 
labiles. Die europäischen Großmächte betrachteten das Türkische Reich, 
„den kranken Mann am Bosporus“, ungefähr wie Hyänen einen schwer ver- 
wundeten oder kranken Mann, um den sie herumsitzen, damit sie gleich nach 
Eintritt seines Todes über ihn herfallen und ihn zerfleischen können. 
Nun trat plötzlich das Deutsche Reich in diese Interessenkreise der Mächte 
ein, und zwar in einer neuartigen Form: der Deutsche Kaiser und sogar die 
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