Kaiserin machten dem Sultan, dem Mohammedaner und Großharems-
besitzer, einen feierlichen Besuch. Weder der Zar noch der König von Eng-
land, noch ein Präsident der Französischen Republik hätten jemals entfernt
an derartiges gedacht. Also ergab sich die Frage, was diese Politik des Kai-
sers bedeute, zu wessen Nutzen und zu wessen Schaden ihre Verwirklichung
sein könne.
Im selben Jahre erfolgte die Konzession des Sultans an eine deutsche Ge-
sellschaft zum Bau und Betriebe anatolischer Eisenbahnlinien mit dem Vor-
zugsrechte zum Bau einer weiteren Linie nach Diarbekr und Bagdad. Im
folgenden Jahre wurde ein Handelsvertrag mit dem Türkischen Reiche ge-
schlossen.
Bismarck hatte bisher die Türkei nicht als einen Hauptgegenstand seiner
Politik behandelt, ihre Erhaltung lag ihm nicht am Herzen, und er betrach-
tete das Türkische Reich im wesentlichen vom Gesichtspunkte der Fragen
des dortigen Interessenstreites der anderen Großmächte und einer even-
tuellen Bedrohung des europäischen Friedens durch den Streit. Die Haupt-
sorge des Kanzlers galt dabei der Erhaltung Österreich-Ungarns als Groß-
macht und in Verbindung damit dem Einfluß der Orientschwierigkeiten auf
die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und dem russischen Reiche.
Die neue Orientpolitik Kaiser Wilhelms II. würde in ihrem Verlauf der
Politik Bismarcks entgegengesetzt gewesen sein. Sie schuf für den Orient,
für die Balkanstaaten, für die Großmächte und deren Beziehungen unter-
einander eine neue Lage.
Die Türkei-Politik Kaiser Wilhelms unterschied sich in dem schon an
gedeuteten Hauptpunkt wesentlich von der Politik der anderen Großmächte
und mußte ihr entgegenlaufen: Wilhelm II. wollte vom Türkischen Reiche
weder Land noch Kontrolle über die Meerengen, noch Anerkennung irgend-
eines Teiles als ‚Interessensphäre‘‘. Das große Eisenbahnbauprojekt sollte
nach seiner Ausführung jene großen, bis dahin ganz eisenbahnlosen Gebiete
wirtschaftlich aufschließen und so einerseits der deutschen Ausfuhrindustrie
dienen, andererseits der Aufschließung von Bodenschätzen und schließlich
der Kanalisierung und Fruchtbarmachung von Gebieten für den Anbau von
Getreide, von Baumwolle usw. Möglicherweise hat sich der Kaiser auch noch
eine reichliche Besiedlung durch Deutsche gedacht.
Dem Plan an sich, von außen und von ferne gesehen, war eine gewisse
Großartigkeit nicht abzustreiten. Die rauhe Wirklichkeit aber ließ eine solche
Betrachtung nicht zu : Zwischen dem Türkischen Reiche und dem Deutschen
Reiche lagen die Balkanstaaten, lag Ungarn und Österreich, ein langer und
nicht eben mit Ruhe und Frieden und Stetigkeit angefüllter Raum. Vielmehr
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