Full text: Von Potsdam nach Doorn.

unterjochten und zu unterjochenden mohammedanischen Völker höchst un- 
angenehm berührt waren. Um so befriedigter nutzten sie nachher ihre 
Marokko-Siege und das fortgesetzte Fiasko der Bluffpolitik des Kaisers in 
der mohammedanischen Welt aus: Da seht ihr, was von Versprechungen des 
Deutschen Kaisers zu halten ist! Nicht mal für die Angehörigen des Islams 
in Marokko hat er sein feierliches Versprechen erfüllen können! 
Während der anderthalb Jahrzehnte vor dem Weltkriege war es der 
„öffentlichen Meinung Europas“ zu einer Wahrheit, die kein vernünftiger 
Mensch bestreiten könne, geworden, daß der Friede in Europa ungestört und 
gesichert sein würde, wenn nicht das Pulverfaß: Balkanhalbinsel immer 
offen dastände, und, ach so leicht!, ein Funken hineinfliegen und den schönen 
Frieden in Atome zerreißen könne. Und gerade die so rührend klagenden 
Großmächte bereiteten emsig von langer Hand her die Balkanexplosion vor. 
Es würde den Rahmen dieser Schilderung sehr weit überschreiten, die viel- 
berufenen ‚„Balkanwirren“ auch nur in ihren Hauptphasen zu skizzieren. 
Beschränken wir uns auf eine Beschreibung der hauptsächlichen Tendenzen : 
Schon im letzten Teil des neunzehnten Jahrhunderts hatte das Türkische 
Reich von seinen alten europäischen Eroberungen Rumänien und Serbien 
wieder hergeben müssen, als unabhängige Königreiche. Es blieben Bulgarien, 
Montenegro, Albanien, Mazedonien, alle mit der Tendenz, sich vollkommen 
aus aller Abhängigkeit von der Türkei zu lösen, zugleich in häufig bewaff- 
neter Zwietracht untereinander. Die Großmächte, und zwar außer England, 
Rußland und Frankreich auch die Habsburger Monarchie und Italien, för- 
derten lebhaft und geschickt diese und ähnliche Bestrebungen, begünstigten 
und stärkten immer diejenigen unter ihnen, die sie, die Großmächte, gerade 
für ihre eigne Politik am besten brauchen konnten. 
Wie verschieden gerichtet nun diese politischen Ziele und Mittel waren — 
ın einem Punkt stimmten sie überein: ın dem Bestreben, das Türkische 
Reich zu schwächen, nach Möglichkeit zu zersplittern und seines euro- 
päischen Besitzes überhaupt zu berauben. Alle, auch der Bundesgenosse 
Österreich-Ungarn, waren in diesem Belang Gegner der Politik des Kaisers 
Wilhelm II. Unter den Großmächten standen in scharfem grundsätzlichem 
Widerstreit Österreich-Ungarn und Rußland. Eine ziemlich lange Reihe von 
Zusammenkünften russischer und österreichisch-ungarischer Minister und 
von Abkommen, die alle nur Provisorien und gegenseitiges Vortäuschen be- 
deuteten, bezeichneten den Weg bis zur sogenannten Bosnischen Krisis 1908. 
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