An anderer Stelle wurde geschildert, wie die Geschicklichkeit König
Eduards und seiner Minister es verstand, die russische Macht und Stellung im
Fernen Osten durch Japan vernichten zu lassen, dann, 1906/07, Rußland als
Bundesgenossen zu dem auf Deutschlands Vernichtung gerichteten englisch-
französischen Bund hinzuzugewinnen und zu diesem Zweck die russische
Expansionsfront wieder nach Südosteuropa umzudrehen; nach der Balkan-
halbinsel mit dem geschichtlichen russischen Endziel: Konstantinopel. Das
Ziel dieser Politik bedeutete nicht allein Vernichtung des Türkischen Reiches,
nicht allein Niederschlagung und Zerstückelung Österreich-Ungarns, son-
dern die Verwirklichung des berühmten Ausspruchs des russischen Generals
Skobelew: ‚Der Weg nach Konstantinopel führt über Wien, und der Weg
nach Wien durch das Brandenburger Tor!‘ Darin lag der große Erfolg der
Londoner Politik: den Zaren und seine Regierung auf diesen Marschweg nun-
mehr einexerzieren zu können. So mußte er zu gegebener Zeit Bundes-
genosse der Westmächte gegen das Deutsche Reich werden.
Der sogenannte Neoslawismus, der Abkömmling des Panslawismus aus
dem neunzehnten Jahrhundert, lebte im russischen Reiche wie auf der
Balkanhalbinsel, und da nicht nur außerhalb, sondern auch im Gebiete der
Habsburger Monarchie, als Vorbereitung auf den Kampf der Befräung,
unter den Südslawen, vor allem der Serben. Ein wichtiges Bindeglied bil-
deten, im österreichischen Staatsbereiche, die Tschechen, die sich als Neo-
slawisten und als Beauftragte des. Mütterchens Rußland fühlten und han-
delten. Unter fähigen fanatischen Führern waren sie tätige Hasser des Habs-
burger Staates, gefährliche zersetzende Kräfte dieser, wie die Südslawen mit
Berechtigung sagten, ‚Flickmonarchie“, und dementsprechend leiden-
schaftliche Feinde des Deutschen und des Habsburger Reichs. Schon 1892
fand eine charakteristische Kundgebung auf einem Turnerfest in Frankreich
zu Nancy statt: dort erschien auch der Großfürst Konstantin von Rußland,
um die neue französisch-russische Freundschaft zu feiern. Besondere Be-
geisterung erregten die tschechischen Turner mit ihrem Gesang: ‚Und gäbe
es so viele Deutsche wie Teufel in der Hölle, Rußland ist mit uns. Ist jemand
gegen uns, Frankreich schmettert ihn zu Boden!‘
Durch den Berliner Kongreß, der die Folgen des Russisch-Türkischen
Krieges 1878 durch den Berliner Vertrag geregelt hatte; erhielt Österreich-
Ungarn die durchweg von Serben bzw. Südslawen bewohnten Gebiete:
Bosnien und Herzegowina, nicht als Teile des Staates, sondern als sogenannte
Okkupationsgebiete auf unbegrenzte Zeit. So wenig die Österreicher ver-
standen noch gewillt waren, diese Bevölkerung ihrer: Wesensart nach zu
regieren, so war immerhin der Zustand erträglich, solange das Verhältnis
zwischen dem Habsburger Reich mit dem Königreich Serbien ein gutes war;
307