Full text: Von Potsdam nach Doorn.

nachher ebenso wie die Demokratie den Gedanken, daß, freilich ohne Zwang 
und allmählich, durch die innere Entwicklung die Vereinheitlichung des 
Reiches eintreten und damit dann auch die zahlreichen Bundesfürsten ver- 
schwinden würden. Andererseits begriffen diese nationalen Liberalen, daß 
die von außen stets gefährdete Lage des Deutschen Reiches eines mit wirk- 
licher Macht und Exekutive verfassungsmäßig ausgerüsteten Kaisers un- 
bedingt bedürfe. Hätte der Deutsche Reichstag als Ganzes sich, ähnlich wie 
etwa dem englischen Parlament, national bewährt im Innern und nach 
außen, so würde vielleicht eine ähnliche Entwicklung nach der parlamen- 
taristischen Seite erfolgt sein. Der eigentliche Kern und Hort des monar- 
chischen Gedankens war Altpreußen, der hier konzentrierte überlieferte 
mächtige und vererbte Konservativismus war, auf der Grundlage des preu- 
Bischen Wahlrechts, der Ausdruck des unbedingten Monarchismus. In den 
später erworbenen oder annektierten Teilen des durch Bismarck groß- 
gewordenen Preußen war diese Unbedingtheit nicht anzutreffen, besonders 
war die Landbevölkerung durchaus nicht, wie stets als selbstverständlich 
behauptet worden ist, monarchisch gesinnt, sondern fand vielfach den Libe- 
ralismus, auch die Demokratie, sympathischer. 
Abgesehen von den Stockkonservativen, verlangte doch durchgehend die 
Stimmung, daß das Verhältnis des Volkes zum Herrscher und im besonderen 
zum Kaiser nicht mehr das der Untertanenschaft bleiben könne. Die Zeit 
von 1871 bis 1890 wurde noch von den drei Gestalten Wilhelm I., Moltke, 
Bismarck beherrscht. Der alte Kaiser war mit neunzig Jahren gestorben, 
unter dem neuen, jungen Kaiser mußte für das Verhältnis zwischen Volk 
und Kaiser eine neue Ära schon deshalb Platz greifen, weil man die auf- 
richtige, tiefe Ehrfurcht nicht von dem Großvater auf den Enkel übertragen 
konnte. So war die Spannung, wie nun der neue sein werde, auch in diesem 
Belange groß. Im ersten Kapitel dieses Abschnittes wurde erwähnt, wie sich 
schon um den Prinzen Wilhelm die Gerüchte bildeten, wie die Parteien und 
ehrgeizige Persönlichkeiten um Gunst des Prinzen und Einfluß auf ihn im 
Wettlauf sich bemühten. Ziemlich einhellig ging dem neuen Herrn der Ruf 
einer ungeheuren Willenskraft und eines hochstrebenden Ehrgeizes voraus, 
auch, daß er wahrscheinlich kriegerisch sein werde und von hoher Genialität 
sei. Auch viele von denen, die ihn im Anfang kannten, trauten ihm solche 
Eigenschaften zu, so lange, bis die ersten Jahre seiner Regierung ohne Bis- 
marck verflossen waren; dann erfolgte bei allen diesen die Enttäuschung. 
Der Durchschnitt des deutschen Volkes hoffte in erster Linie auf Er- 
haltung des Friedens, und im übrigen, abgesehen von der Sozialdemokratie, 
ganz allgemein auf Leistung des Unternehmers der großen Erbschaft. 
Würde er sie erwerben, um sie zu besitzen ? 
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