Die Rede ist typisch für Wilhelm II.
An die Stelle des ‚modernen Herrschers‘ tritt hier plötzlich der alt-
preußische König, der, im Gegensatz zur Preußischen wie zur Reichsverfas-
sung, „den Adel‘ als einen besonderen Stand auffaßt, der eine politische
Leibgarde für den König zu bilden habe. Wilhelm II. spricht diesem preu-
Bischen Adel das verfassungsmäßige Recht ab, für seine landwirtschaft-
lichen Lebensinteressen im Parlament, in der Presse und in öffentlichen
Reden zu kämpfen und der Regierung zu opponieren. Solche Opposition
preußischer Adliger bedeutete dem Kaiser und König ‚‚ein Unding‘‘, er ver-
langt von den preußischen Adligen, daß sie gegen ihre und überhaupt die
landwirtschaftlichen Lebensinteressen Opposition machen, indem sie der vom
Kaiser befohlenen Regierungspolitik zustimmen. Die landwirtschaftliche
Not soll als eine von Gott auferlegte Prüfung getragen werden, während sie
in Wirklichkeit die einfache Folge einer landwirtschaftsfeindlichen schlechten
Regierungspolitik war.
Sein Standpunkt, wie ihn der Kaiser hier darlegte, war in jedem Sinne
sachlich unhaltbar. Der pathetische Aufruf an ‚‚den preußischen Adel‘ (als
ob dieser noch wie in früheren Zeiten ein Stand sei!) gegen die Parteien des
Umsturzes galt der Vorbereitung der sogenannten, gegen die Sozialdemo-
kratie beabsichtigten ‚Umsturzvorlage‘“. Eine stärkere Einleitung für die
Ankündigung eines geplanten Kampfes läßt sich schwer denken. Das Ende
kam schnell: die Vorlage wurde abgelehnt, nichts aber geschah! Vier Jahre
später ging es der „Zuchthausvorlage‘‘ ebenso. Weder in einem Falle, noch
in anderem wurde der Reichstag aufgelöst.
Wiederum hatten Sozialdemokratie und Demokratie triumphiert, mit
jeder neuen Wahl wuchs die marxistische Stimmenzahl und die Zahl ihrer
Abgeordneten im Reichstag. Ein Jahr nach dem Fall der ‚Zuchthaus-
vorlage‘‘ aber nahm der Kaiser Gelegenheit, gelegentlich einer Feier der
Technischen Hochschule in Charlottenburg, zu erklären: neben ihren tech-
nischen Aufgaben hätten die Hochschulen auch bedeutende soziale Aufgaben
zu erfüllen. ‚Die bisherigen Richtungen (?) haben ja leider in sozialer Be-
ziehung vollkommen versagt!‘ Und dann: ‚‚Die Sozialdemokratie betrachte
Ich als eine vorübergehende Erscheinung ; sie wird sich austoben.“
Das Hohngelächter der Sozialdemokratie und der ganzen Linken war
zugleich ein Lachen des Siegers. Die Haltung Wilhelms II. aber bezeichnete,
in etwas abgewandelter Form, die alte ewig neue Geschichte von den sauren
Trauben: nach zwei schweren, ganz persönlichen Niederlagen des Kaisers
gegenüber der Sozialdemokratie und Demokratie, nach dem vorhergegange-
nen feierlichen Aufruf, dem sich in der Presse viele andere angeschlossen
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