Full text: Von Potsdam nach Doorn.

obliegen, sich zu unterrichten, wie esim Volk, und zwar sämtlicher Schich- 
ten, in diesem Punkt stand. Im Anfang des zweiten Buchs dieser Schrift 
wurde der Briefwechsel zwischen dem damaligen Prinzen Wilhelm und Bis- 
marck über die Bestrebungen Stoeckers und Waldersees besprochen, für die 
der Prinz sich begeistert hatte. Niemals aber hat Wilhelm II. die entschei- 
dend wichtige Tatsache gewürdigt und darüber nachgedacht, warum 
Stoecker, ungeachtet seiner großen, furchtlosen und grundreligiösen christ- 
lichen Persönlichkeit, ebenso wie seine Christlich-Soziale Partei, in ihren 
religiösen Bestrebungen vollkommen scheiterte, besonders bei der Arbeiter- 
schaft in allen größeren Städten, an erster Stelle in Berlin. Seine Versamm- 
lungen und Wahlergebnisse, und das Zunehmen der religiösen Zersetzung, 
haben den Beweis geliefert. 
Zum Schluß seiner Thronrede, am 18. Januar, zur 25jährigen Feier der 
Gründung des Deutschen Reichs, endete der Kaiser mit dem pathetischen 
Ruf: „Ein Reich, ein Volk, ein Gott!” Nach dem Zusammenhang 
konnte das letzte Wort nur die Bedeutung einer Forderung an das gesamte 
deutsche Volk haben: einen, also ‚‚denselben‘‘ Gott zu verehren, mithin den 
religiösen Glauben des Kaisers zu teilen, den des kirchlichen Christentums. 
Er hätte wissen müssen, wie weit, vielfach unendlich weit, von diesem Glau- 
ben der größte Teil des deutschen Volks entfernt war; außerdem, daß Zu- 
gehörigkeit zu einer der christlichen Konfessionen keine Schlußfolgerung 
darauf gestattete, wie es mit der eigentlichen Religiosität bestellt war. Er 
sah nicht, wollte vielleicht nicht sehen, wie viele nur aus mehr oder minder 
äußeren Gründen oder aus Gewohnheit den Kirchen angehörten. Während 
seiner Regierung hat Wilhelm II. eine, man kann es wohl so ausdrücken, 
ununterbrochene Propaganda für das Christentum in Deutschland getrieben, 
ohne den geringsten Erfolg, nicht zum wenigsten, weil sie an der Oberfläche 
und bei Formen blieb, und bei Argumenten, durch die besonders die breiten 
Massen der Bevölkerung, um deren Seele zu ringen, der Kaiser erklärte, 
längst hindurchgegangen waren. Im Grunde genommen war es immer ledig- 
lich der Befehl: Ihr müßt christlich werden und bleiben! 
Es begann ein großes Kirchenbauen in Deutschland und besonders zu 
Berlin. Hauptanreger waren, abgesehen vom Kaiser selbst, in erster Linie 
die Hofprediger und deren Kreise, die Organisationen der Inneren Mission, 
desEvangelischen Bundes, und was sonstnoch dazu gehörte. Gegen das alles 
war an sich nichts einzuwenden: wenn und wo Bedarf nach einer Kirche und 
kein Geld für den Bau war, erschien es nötig und nützlich, das Geld zu be- 
schaffen und den Bau zu ermöglichen. Und wenn die verehrungswürdige 
Kaiserin sich um diese Dinge besonders in ihrer aufrichtigen christlichen 
Frömmigkeit bemühte und sorgte, so war es nur anzuerkennen. Wenn man 
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