Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Die Sozialdemokratie, voll Hohn über die dauernden vergeblichen An- 
strengungen mit ihren von vornherein zum Mißerfolg verdammten Me- 
thoden, sagte den Massen: Da seht Ihr wieder, wie recht unser Karl Marx 
hatte, als er schrieb: Religion sei Opium für das Volk, nur bestimmt von den 
herrschenden Klassen, um Euch dumm zu machen durch die Drohung mit 
Höllenstrafen,damitIhr Euch von den herrschenden Klassen aussaugen laßt, 
Euch Euer Recht nicht nehmt, sondern Euch in sklavischem Gehorsam unter- 
werft! Daß dies die Absicht des Kaisers ist, geht schon aus dem Ton seiner 
Reden hervor, ob er nun politisch spricht, oder als euer religiöser Oberherr. 
Der Kaiser hat wohl nie begriffen, weshalb diese seine Bemühungen zum 
Scheitern bestimmt waren und nur Schlechtes bewirkt haben. Die uralte 
Seuche, die religiöse Heuchelei, gelangte zu Ausmaßen, wie sie unter Wil- 
helm I. nicht erlebt worden waren. Der Hof war der Mittelpunkt, und von 
dort verzweigte sich diese Seuche überall dahin, wo jemand durch Gunst 
oder Ungunst des Kaisers etwas erreichen oder verlieren konnte. Es hing in 
der Tat vielfach, z. B. für einen Assessor, die Laufbahn davon ab, ob er seine 
Gleichgültigkeit oder Ablehnung der Kirche gegenüber offen sehen ließ, oder 
durch fleißigen Kirchenbesuch verbarg. Im militärischen Leben machte sich 
dieselbe Krankheit bemerklich. Hier, wie dort, konnte ein unvorsichtiges 
Wort böse Folgen für den Betreffenden haben, während es sich in hohem 
Maße lohnte, Kirchenbesuch, kirchliche Frömmigkeit und fromme Gläubig- 
keit bei guten Gelegenheiten zur Schau treten zu lassen. Natürlich blühte 
auch das Denunziantenwesen, wenn es sich darum handelte, jemandem in 
seiner Laufbahn zu schaden. 
Die ‚einschlägige‘ Presse, die immer größere Dimensionen annahm, wurde 
nicht satt, den Strom von Frömmigkeit zu bewundern und zu preisen, der, 
vom Kaiser und der Kaiserin ausgehend, die deutsche Bevölkerung wieder 
mit christlichem Glauben und Sinn, allen Feinden zum Trotz, erfüllte! Nicht 
zum wenigsten mußte in diesem Belange auch Geistlichen und kirchlichen 
Behörden ein schwerer Vorwurf gemacht werden: 
Der Kampf gegen Kirche und Christentum im neunzehnten Jahrhundert 
hatte viele Wurzeln, so: die ungeheure Entwicklung der Technik, der Natur- 
wissenschaften, die Lehre Darwins, später die Flugschriften Haeckels, die 
verkehrte Behandlung der sozialen Frage, die Marxsche Lehre u. a. m. Die 
Geistlichen standen dieser Entwicklung und deren Ansturm annähernd 
wehrlos gegenüber, nicht allein wissenschaftlich, was selbstverständlich war, 
sondern sogar sozial und religiös. Sie erlebten Niederlage auf Niederlage. So 
lag es älso allzu nahe für sie, die amtierenden Geistlichen, auch die wissen- 
schaftlichen Theologen, anstatt sich auf geistigen Kampf einzulassen, die 
Autorität des Staates ins Feld zu führen, Staatserhaltung und Kirchen- 
388
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.