als rednerisches und schriftstellerisches Schaustück ausnutzte, ohne ihm
irgendwelchen Einfluß zu gewähren. Naumanns politischer Idealgedanke
war ein demokratisches Kaisertum, die Demokratie, einschließlich der
Sozialdemokratie, solle national werden, und der Kaiser sich auf diese Macht
stützen, im Gegensatz zum Konservatismus und dem Ultramontanismus.
*
„Stoecker endigfe, wie ich vor Jahren voraussah. Politische Pastoren
sind ein Unding. Wer Christ ist, ist auch sozial; christlich-sozial ist Unsinn
und führt zu Selbstüberhebung und Unduldsamkeit, beides Christentum
zuwiderlaufend. Herren Pastoren sollen um Seelenheil kümmern, Nächsten-
liebe pflegen, aber Politik aus Spiel lassen, dieweil sie das gar nichts angeht.“
Dieses friderizianisch affektierte Telegramm sandte 1896 Wilhelm II. an
den Großindustriellen und sehr mächtigen Mann, den Freiherrn von Stumm,
der übrigens in besonders intimer gegenseitiger Feindschaft mit Naumann
lebte. Stumm gehörte zu jener Kategorie von Industrieführern, die schroffe
Gegner jeder Einflußnahme des Staates auf die sozialen Verhältnisse der
Arbeitnehmerschaft in den Großbetrieben waren, als Repräsentant des
Standpunktes: man wolle ‚Herr im eigenen Hause‘ sein.
Die Kaiserliche Depesche erregte großes Aufsehen, besonders in der
evangelischen Geistlichkeit, und nicht zum wenigsten deshalb, weil zehn
Jahre früher der damalige Prinz Wilhelm noch für Stoecker geschwärmt
und an seiner politisch-religiösen Tätigkeit durchaus nichts auszusetzen
gehabt hatte. Erinnert sei an die beiden Briefe des damaligen Prinzen Wil-
helm 1886 und Bismarcks Antwort, insbesondere an den Satz: ‚Ich habe
nichts gegen Stoecker; er hat für mich nur den einen Fehler, als Politiker,
daß er Priester ist, und als Priester, daß er Politik treibt.‘‘ Der Prinz hatte
sich durch Bismarcks Antwort verstimmt gefühlt. Zehn Jahre später be-
stätigte er durch seine Depesche die damalige Richtigkeit von Bismarcks
Antwort, behauptete im Gegensatz zu den Tatsachen, daß er schon vor
Jahren Stoeckers Ende vorausgesehen und politische Pastoren als ein Un-
ding angesehen habe. Die interessante Frage, ob der Kaiser damals sich an
seinen Briefwechsel mit Bismarck erinnert hat, ist leider nicht beantwortbar.
Die Kaiserliche Verlautbarung. hätte noch eine andere, erheblich wich-
tigere, Seite:
Der evangelischen Geistlichkeit verbot hiermit ihr Summus Episcopus
der evangelischen Kirche jegliche politische Tätigkeit. Sie sollten sich auf
Seelsorge und Nächstenliebe beschränken, oder den Talar ausziehen und
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