Full text: Von Potsdam nach Doorn.

einen Menschen von großen Eigenschaften, besonders des Charakters, eine 
starke, zu Großem bestimmte Persönlichkeit, die in Schuld, die „tragische 
Schuld‘, gerät, scheitert und dadurch irgendwie ‚untergeht‘“‘ Eine von 
Grund aus schwache Persönlichkeit, wie Wilhelm II., kann niemals tragisch 
sein. Man sucht vergeblich nach einem einzigen tragischen Zug im Laufe 
seiner ganzen Regierung. Vielleicht und unter Umständen könnte man auch 
jemanden eine tragische Persönlichkeit nennen, der sich aufrichtig über 
sich selbst täuscht, dann, vor eine große Aufgabe gestellt, an ihr scheitert 
und an dieser Enttäuschung zugrunde geht. Wilhelm II. jedoch hat immer 
gefühlt und gewußt, daß er im Innersten schwach war. Dies sich selbst und 
anderen gegenüber zu verbergen und schließlich in dieser Kunst auch zu 
scheitern, kann man nicht als tragisch bezeichnen, ebensowenig, daß Wil- 
helm Il. sich in der Annahme täuschte: er könne mit dem Scheinen aus- 
kommen. 
Zum Verhängnis geworden ist ihm und dem deutschen Volk diese Eigen- 
schaft und Leidenschaft des Selbstbetruges. Das zeigt besonders drastisch 
und erschütternd das Verhältnis und die Stellung des Kaisers zur sozialen 
Frage und zur Sozialdemokratie: 
Ohne die soziale Frage, ohne das Wesen und die Geschichte der Sozial- 
demokratie durch ein ernsthaftes gründliches Studium kennengelernt zu 
haben, wollte er sich ihrer als Mittel bedienen, um als ‚Arbeiterkaiser‘‘ vor 
seinen Untertanen und der Welt zu glänzen, während Bismarck die Gröfße 
der Gefahr für das Reich im Anwachsen der reichsfeindlichen Macht des 
Marxismus erblickte und als damals erfolgreiches Mittel gegen sie rücksichts- 
loses Vorgehen erkannte. Bismarck wurde entlassen. Der Kaiser sagte, die 
Sozialdemokratie solle man nur ihm überlassen, mit der werde er schon allein 
fertig werden. Sein weiteres Verfahren bestand in einer Reihe von Reden mit 
jähen Standpunktwechseln, alles Stimmungsäußerungen; aus Gesetz- 
vorlagen, die nach ersten Mißerfolgen wieder aufgegeben wurden, und aus 
gelegentlichen Äußerungen unverhüllter Furcht, dann der Selbstberuhigung, 
die Gefahr werde durch Mauserung der Sozialdemokratie von selbst ver- 
gehen, sobald sie Verantwortung zu tragen habe. Schließlich kam das er- 
schütternde Wort Wilhelms II., das wehrlose und willige Eingeständnis der 
Unterwerfung: nunmehr werde er versuchen, mit Hilfe der Sozialdemo- 
kratie Deutschland wieder aufzurichten. Auch in dem Augenblick hatte der 
Kaiser die Sozialdemokratie nicht begriffen, seine Lage auch nicht. Er sah 
nicht, daß die Führer des Marxismus schon den Fuß erhoben hatten, um ihm 
den Tritt zu geben ; auch nachher nicht, als er am 2. November denschwung- 
vollen Erlaß veröffentlichte. 
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