merkwürdig wenig übel. Heines durch nichts bedingte innere Unwahrhaftig-
keit ist allgemeiner erst im letzten Drittel des Jahrhunderts durchschaut
worden, und im übrigen ließ die allgemeine Schwärmerei für ‚Das Buch der
Lieder‘‘ meist über alles andere hinwegsehen. Und wenn Heine den deut-
schen Patrioten machte und von Paris aus dichtete: der Gedanke an
Deutschland bringe ihn um den Schlaf, dann war in Deutschland alle Welt
tief gerührt, ebenso wie, wenn er von der Freiheit, vom Volke usw. inReimen
oder in Prosa redete. ı
Vielleicht fragt der Leser, was diese Abschweifung zur Judenfrage mit
dem Thema dieses Buches zu tun habe. Die Antwort ist: die Entfesselung
der Juden hat auf die Art, wie man die Deutsche Frage sah und behan-
delte, einen Einfluß von solcher Größe ausgeübt, wie er bisher wohl nurnoch
wenig bekannt, jedenfalls zum Ausdruck gebracht worden ist.
Wohl sprachen Geschichtsschreiber, wie Heinrich von Treitschke und
andere, ihre Empörung über das Treiben von Börne und Heine — und wie
sie noch hießen — aus; aber man unterläßt in der Kritik dieses Zeitalters:
die Verbindung mit der Emanzipation zu zeigen, außerdem, daß die ge-
nannten Juden nur Exponenten waren des gesamten jüdischen Kampfes für
völlige Emanzipation und — in der Folge — um die Vorherrschaft ın
Deutschland. — Es waren von Grund aus deutschgesinnte Menschen, füh-
rende Deutsche, wie gerade Treitschke, unter jenen nationalen Liberalen;
aber sie befanden sich auf dem Standpunkt, den wir vorher kennenlernten:
alle Rechte für den Juden, dem dafür die Pflicht zufällt, ein guter Deutscher
zu sein und alle jüdischen Sonderbestrebungen und Eigenschaften abzu-
legen. Auch die Rede, in der Treitschke die berühmte Wendung gebrauchte:
Die Juden sind unser Unglück!, ging von demselben Gesichtspunkt aus: er
machte den Juden den empörten Vorwurf, daß sie die ihnen gewordenen
Rechte mißbrauchten, indem sie die mit diesen verbundenen Pflichten ver-
letzten. Wenn es damit nicht anders würde, so sei allerdings der Zustand auf
die Dauer unhaltbar. Dies war aber nicht allein der Standpunkt der Libe-
ralen, sondern ebenso der Konservativen, bei denen hinsichtlich der ge-
tauften Juden der christliche Standpunkt natürlich noch eine ungleich
größere Rolle spielte. Alle Parteien und Schichten jedoch waren durch-
drungen vom freimaurerischen Element.
Das Schlagwort: ‚Freiheit‘ charakterisiert vielleicht am besten das große
jüdische Schattenspiel. Das Lied von Herwegh: ‚Freiheit, die ich meine“
zeigt es am kürzesten und schlagendsten. Das junge Deutschland meinte
damit ein freies deutsches Leben im Inneren, Beseitigung überalterter Ein-
richtungen und Bräuche, Freiheit nach außen, Verschwinden des Unter-
tanengedankens. Wenn diese deutsche Bewegung den Ruf nach Freiheit
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