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meistern unangenehm gewesen wäre, dafür sorgten natürlich
diese durch Drohungen und andere Maßregeln. Gestützt
darauf erließ der Justiz- und Polizeidirektor des Kantons
eine Verordnung, laut welcher die gefangenen Mädchen das
Recht haben sollten, sich an jene Direktion zu wenden, wenn
sie die „Häuser“ zu verlassen wünschten. Natürlich wußte
der Herr Direktor sehr gut, daß die Bordellhyänen ihre
Opfer an solchen Gesuchen zu verhindern wissen; hätte er
es nicht gewußt, so müßte er ein Kind von so rührender
Unschuld gewesen sein, wie sie bei den jungen und älteren
Herren von Genf nicht vorkommt, was Jedermann weiß,
der die dortigen Verhältnisse kennt. Das in Genf erscheinende
„Bulletin continental“ weiß aus amtlicher Quelle, daß die
Mädchen mit jenen Verfügungen gar nicht oder nur zum
Scheine bekannt gemacht werden. Daß aber die Behörden
vollends das Gegenteil von dem thun, was ihre Pflicht
wäre, zeigt folgende Geschichte:
Im December vorigen Jahres (1891) wurde Marie P. aus
dem Kanton Bern von einer Kupplerin in Biel um 280 Fr.
an eine Bordellhalterin in Genf verkauft. Hier verliebte
sich ein junger Mann, der von Kameraden zum Besuche des
Hauses verlockt worden, in das schöne Mädchen und bot ihr
seine Hand, wenn sie das Haus verlassen wolle, worin sie
mit Freuden einwilligte. Dies konnte sie aber nicht, ohne
der Sklavenhalterin ihre „Schuld“ abzuzahlen, und sie wußte
überdies, daß sie, wenn ihre Absicht bekannt würde, sicher
wäre, sofort heimlich nach einer anderen Stadt verkauft zu
werden.
Die Liebenden planten eine Flucht; aber das Mädchen
wurde krank und kam in das Spital. Hier boten ihr edle
Damen an, ihr zum Austritte aus dem Hause zu verhelfen;
allein sie fürchtete ihre Sachen zu verlieren und kehrte in
den Kerker zurück, woraus sie aber bald durch die Bemühungen
ihres Geliebten, der eine jener Damen zum Handeln bestimmt