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die Prostitution die meiste Macht besitzt und sich mit der
schamlosesten Offenheit an das Tageslicht drängt. Ungeachtet
der polizeilich ermächtigten und beschützten Bordellwirtschaft,
ungeachtet der dieselbe im Kreise umgebenden Armee ein—
geschriebener Dirnen, sieht man als dritten, entsetzlichsten
Kreis uneingeschriebene Kinder von 14 und 15 Jahren in
den Hauptstraßen, auf den Hauptplätzen und unter den Ar-
kaden herumbummeln, die Vorübergehenden anreden, und
wenn es ihnen gelingt, sie in schmutzige Lasterhöhlen führen.
Und das am hellen Tage! Nachts aber herrscht im Mittel-
punkte der Stadt, welcher zugleich den Schlupfwinkel des
Hetärentums bildet, ein Höllenspektakel. Und die Polizei?
wird der unkundige Leser fragen. Ja, die Polizei, guter
Leser! Jeder Belgier, an den Sie sich wenden, wird Ihnen
sagen, daß in seinem Lande die Polizei mit der Prostitution
unter einer Decke steckt, weil sie von ihr gute und fette
Einkünfte bezieht. Ein belgischer Rechtsanwalt hat uns ver-
sichert, die belgische Polizei lebe großenteils von den Ge-
schenken der Bordellhalter. Was will man auch sagen von
einem Lande, in welchem die öffentlichen Blätter Anzeigen
bringen, wie z. B. das „Neue Anzeige= und Varietätenblatt“
(Nouvelle Feuille d’annonces et de variétés) von Verviers,
in welchem am 22. Juli 1877 stand: „Ankunft zweier Damen,
die eine aus Toulouse, die andere eine junge Engländerin,
bei Fräulein Camelia (es folgt Straße und Nummer). Man
ist gebeten, es weiter zu melden.“ Do ist jeder Kommentar
überflüssig! Aber dies ist noch nichts gegen das neue Pro-
stitutionsreglement, welches der Stadtrat von Brüssel am
28. August 1877 auf Antrag des Oberpolizeikommissärs
Lengers in Kraft erklärt hat. Es ließ dem Herrn Lenaers
keine Ruhe, daß die Brüsseler Bordelle wegen des Über-
handnehmens der heimlichen Prostitution an Zahl herunter-
gingen. Um diesem „UÜbelstand“ abzuhelfen, hat er folgende
„Reformen“ durchgesetzt: 1. Sowohl die „Toleranzhäuser“