Selbstverwaltung und Selbstverwaltungstörper. (8. 1.) 3
Diese geschichtliche Entwickelung klargelegt, wissenschaftlich begründet und damit dem
Festlande die Erkenntnis des Wesens des englischen Staatsbaues ermöglicht zu haben,
ist das hohe Verdienst Gneists, der in zahlreichen und umfassenden Schriften das eng-
lische Verwaltungsrecht zur Darstellung gebracht hat. Der Zweck aller seiner Abhand=
lungen ist jedoch mehr ein politischer als ein juristisch-dogmatischer. Er will den Deutschen
das wahre Muster konstitutioneller Freiheit vorführen, damit sie in Anlehnung an dieses
und nicht an verdorbene französische Verhältnisse ihr eigenes Staatsleben gestalten. Es
kommt ihm besonders darauf an, daß Staatsgeschäfte nicht von besoldeten Berufsbeamten,
sondern von Staatsbürgern im Ehrenamte besorgt werden. Die Heranziehung wirt-
schaftlich unabhängiger Bürger zum Dienste für das Ganze ist nach ihm das in Eng-
land best erprobteste Mittel, die kollidierenden egoistischen Interessen der sozialen Klassen
zu brechen und das Volk zur politischen Freiheit zu erziehen. Er entwickelt daher aus
dem englischen selsgovernment, welches er einen „Zwischenbau zwischen Staat und
Gesellschaft“ 1 nennt, einen neuen Begriff der Selbstverwaltung. Sie ist „eine innere
Landesverwaltung der Kreise und Ortsgemeinden nach den Gesetzen des Landes durch
persönliche Ehrenämter unter Aufbringung der Kosten durch kommunale Grund-
steuer". Diese Selbstverwaltung umfaßt sowohl die Verwaltung von Kommunalämtern
wie die von Staatsämtern durch Ehrenbeamte; in ersterer Beziehung wird sie als wirt-
schaftliche, in letzterer als obrigkeitliche Selbstverwaltung bezeichnet. Sie steht
nicht im Gegensatz zur Staatsverwaltung, sondern ist eine Unterart derselben; sie ist
nicht die Verwaltung eigener Angelegenheiten, sondern staatlicher nach Maßgabe der
Staatsgesetze; sie ist nicht Verwaltung im eigenen Interesse, sondern Verwaltung im
Interesse des Staates. Den begrifflichen Gegensatz zur Selbstverwaltung bildet nach
Gneist allein die „Ministerverwaltung“, d. h. die Verwaltung durch besoldete
Berufsbeamte. Diese durch Gneist entwickelte Auffassung des Begriffs „Selbstverwaltung“
ist schnell zur Herrschaft gelangt und zum Schlagwort politischer Parteibestrebungen ge-
worden. Besonders wird auch in den Materialien der neueren preußischen Reform-
gesetzgebung wiederholentlich als ein Ziel derselben „die weitere Ausbildung der obrig-
1 Z. B. in Selfgovernment, S. 71—72,Gneist Veranlassung. Durch diese wurde die
883—84 IX, 885 Xll, in der Kreisordnung,
S. 6; in Verwaltung u. s. w., S. V u. 2 und
passim.
: Vgl. bes. Selfgovernment, S. 69, 882 I.
3 Zuerst sind diese Bezeichnungen von Gneist
in seiner Kreisordnung (1870), S. 11 ff., bes.
S. 14, und zwar zunächst in anderem Sinne
gebraucht. Als „obrigkeitliche Selbstverwal-
tung“ bezeichnet er die Verwaltung der im
Ehrenamte fungierenden Friedensrichter, als
„wirtschaftliche“, die der gewählten Kollegien
(boards), welche sich zur Exekutive besoldeter
Beamten bedienen. — Gegensätze, welche er in
seiner Schrift „Verwaltung, Justiz u. s. w.“/ (1869)
durch die Ausdrücke „System der Friedensbe-
wahrung“ oder „historisches System“ und
„neueres administratives System der Verwal-
tungsräte“ oder „neues Gemeindesystem“ be-
zeichnet hatte. Im Selfgovernment (1871),
S. 72—73, legt er die neuen Bezeichnungen
seinem ganzen System zu Grunde. Sie recht-
fertigen sich insofern, als das neue System
gerade die Verwaltungszweige an sich zog, in
welchen das ökonomische Interesse der Steuer-
zahler an der Verwaltung besonders hervortrat,
während diejenigen Gebiete, in denen die Ver-
waltungszwecke nicht durch wirtschaftliche Mittel,
sondern durch Ausübung obrigkeitlicher Funk-
tionen zu verwirklichen sind, der friedensrichter-
lichen Verwaltung belassen wurden. Zur Uber-
tragung dieser Bezeichnungen auf preußische
Verhältnisse bot der Entwurf der Kreisordnung
Handhabung der Polizei im Namen des Königs
Amtshauptmännern übertragen, welche vom
Könige ernannt, im Ehrenamte fungieren
sollten; ihre Stellung entsprach etwa der der
englischen Friedensrichter, und ihre Thätigkeit
konnte daher als „obrigkeitliche Selbstverwal-
tung“ bezeichnet werden. Gneist, Kreisordnung,
S. 32, 34, 48 u. s. w. In den die Verwaltung
des Kreises durch Beschlüsse und Steuerbewil-
ligungen leitenden gewählten Kreisvertretungen
konnte man dagegen Träger der „wirtschaft-
lichen Selbstverwaltung“ erblicken. In der
späteren Litteratur hat man dann, davon aus-
gehend, daß die Amtshauptmänner bei Aus-
übung der Polizei reine Staatsgeschäfte, die
Kreisvertretungen dagegen reine Kommunal=
angelegenheiten verrichten, „obrigkeitliche Selbst-
verwaltung“ alle Selbstverwaltung im Staate,
„wirtschaftliche Selbstverwaltung“ alle Selbst-
verwaltung in der Kommune genannt. Vgl.
z. B. v. Brauchitsch, Die neuen preußischen
Verwaltungsgesetze, Bd. 1 (2. Aufl., Berlin
1881), in den Vorbemerkungen zum Verwal=
tungsgerichtsgesetz v. 3. Juli 1875: „der leitende
Gedanke jenes Entwurfs (des ersten der Kreis-
ordnung) ging vielmehr dahin, die Selbstver-
waltung auf den Gebieten der wirtschaftlichen
(kommunalen) und der obrigkeitlichen Ver-
waltung auszubilden“ auch S. 159 eod. Rosin,
in Hirths Ann., S. 317—318. v. Stengel,
S. 16, Anm. 1.
1“