Ortsgemeinden; das geltende Recht. (8. 95.) 341
von Gutsbezirken älteren und Gutsbezirken neueren Rechtes; die heutige
Rechtsstellung beider ist dieselbe 1; die Unterscheidung ist nur für die Frage nach dem
Erwerb dieser öffentlich-rechtlichen Stellung von Bedeutung.
1) In dem Gesetz v. 14. April 1856 betr. die Landgemeindeverfassungen in den
sechs östlichen Provinzen wird zum erstenmal ausgesprochen, daß die Gutsbezirks-
qualität von einer ländlichen Besitzung nur durch einen besonderen Akt der Staatshoheit,
nämlich durch königliche Kabinettserdre, erworben werden kann. Die vorhandenen Guts-
bezirke erkennt das Gesetz in ihrem damaligen Bestande ausdrücklich- an , unterläßt es
aber zu sagen, welche Besitzungen als Gutsbezirke anzusehen sind. Ebenso findet sich
auch in der älteren Gesetzgebung keine Definition des selbständigen Gutsbezirks. Das
Allgemeine Landrecht kennt diesen Begriff überhaupt nicht, nach ihm erscheinen als kom-
munale Gebilde auf dem platten Lande nur die Dorfgemeinden und über, nicht neben
diesen als obrigkeitliche Gewalten die Gutsherrschaften. Auch das Armenpflegegesetz
v. 31. Dez. 1842, welches die erste Gleichstellung der selbständigen Güter mit den Ge-
meinden brachte, enthält sich jeder weiteren Begriffsbestimmung; es läßt sich jedoch aus
ihm entnehmen, daß es als selbständige Güter nur solche Bezirke betrachtet wissen
wollte, welche außerhalb jedes Gemeindeverbandes standen, gleichzeitig aber einer Guts-
herrschaft gehörten. Begriffsmerkmal für den Gutsbezirk sollte also nicht nur die wirt-
schaftliche Selbständigkeit 3 und die Freiheit von jedem Gemeindeverbande", sondern auch
die öffentlich = rechtliche Stellung seines Besitzers sein; nur solche Bezirke sollten als
selbständige Gutsbezirke gelten, deren Besitzer Gutsherren waren, d. h. obrigkeitliche
Rechte über die Eingesessenen des Bezirks ausüben konnten. Das bezeichnendste Recht
der Gutsherrschaften zur Zeit der Erbunterthänigkeit der Bauern war nun aber, wie
oben S. 47 näher dargelegt ist, das Recht auf Unterthanen. Daher ist es für
die Frage, ob man ein Gut schon auf Grund der Stellung, welche es in der geschicht-
lichen Entwickelung der ländlichen Verhältnisse eingenommen hat, als Gutsbezirk (älteren
Rechtes) anzuerkennen hat, von entscheidender Bedeutung, ob mit dem Besitze dieses
Gutes seiner Zeit das Recht auf Unterthanen verknüpft war oder nicht. Und daher
muß, wenn für ein Gut die Gutsbezirksqualität nicht auf Grund besonderer Verleihung
in Anspruch genommen wird, nachgewiesen werden, daß mit dem Besitze dieses Gutes
bis zur Zeit der Aufhebung der Erbunterthänigkeit das Recht auf Unterthanen, auf
herrschaftliche Rechte über solche verbunden war.##" Dieses Recht stand nun nach
dem Allgemeinen Landrecht gewöhnlich nur den Besitzern der Rittergüter zu, den
1 O. V. G., XI, S. 164.
: F. 1 des Ges. und dazu M. Erl. v. 14. April
1856 (V. M. Bl., S. 172).
* Die wirtschaftliche Selbständigkeit eines
Gutes reicht nicht aus, die kommunale Selbst-
ständigkeit desselben zu begründen. O. V. G.,
VIII, S. 91; vgl. auch O. V. G., XX, S. 176;
XXII, S. 101.
4 Bgl. O. V. G., J, S. 102, betr. die freien
Bürgergüter von Elbing in Westpreußen.
° Bgl. z. B. O. V. G., 1. S. 109; II, S. 117;
VII, S. 177; XVI, S. 224. Da nach allge-
meinen Grundsätzen derjenige, welcher ein Recht
in Anspruch nimmt, nur die Entstehung des-
selben zu beweisen hat, eine Veränderung in
Rechtsverhältnissen aber nicht vermutet wird,
sondern vom Gegner zu beweisen ist, so ist im
Streitfalle durch den Beweis, daß das Gut zu
irgend einem vor Aufhebung der Erbunter-
thänigkeit liegenden Zeitpunkte im Besitze jenes
Rechtes war, auch der Nachweis gebracht, daß
das Gut bis zur Aufhebung der Erbunter-
thänigkeit im Besitze dieses Rechtes geblieben
ist, sofern nicht von dem Gegner nachgewiesen
wird, daß es dieses Recht schon vor dem letzt-
erwähnten Zeitpunkte wieder verloren hat.
Genzmer, S. 34.
Diesem entgegen hat der Bez. A. zu Marien-
werder in einem Erkenntnis v. 18. März 1891
(auszugsweise mitgeteilt bei Genzmer, S. 33,
Anm. 4) angenommen, daß — wenigstens für
seinen Gerichtsbezirk — das Recht, Unterthanen
zu haben, nicht notwendige Bebingung der
Gutsherrschaft, sowie daß nach Aufhebung der
Erbunterthänigkeit auch ein besonderer staat-
licher Akt nicht unbedingtes Erfordernis für die
Entstehung eines Gutsbezirks gewesen sei, son-
dern daß auch eine Observanz, d. h. die that-
sächliche Behandlung eines Gutes als Guts-
bezirk, besonders wenn eine solche seitens der
Verwaltungsbehörden stattgefunden habe, Rechts-
grund für die Entstehung eines selbständigen
Gutsbezirks sein kann. Das O. V. G. hat diese
Ansicht jedoch, an seiner alten Rechtsprechung
festbaltend (XXII, S. 99), aus treffenden Grün-
den verworfen. Eine ähnliche Ansicht wie der
Bez. A. zu Marienwerder hatte übrigens hin-
sichtlich der kölmischen Güter auch der Bez. A.
zu Gumbinnen in einem in den Entsch. des
O. V. G., XXI, S. 117 inhaltlich mitgeteilten
Erkenntnis entwickelt. Auch dieses Erkenntnis
hat das O. V. G. verworfen.