24 Zweiter Abschnitt. (F. 6.)
galt, zehn bis zwölf Bürgerschaften zu regieren.“ Die Bürger zogen sich von der Ver-
waltung ganz zurück; da sie nirgends selbständig für ihr eigenes gemeinsames Interesse
sorgen konnten und ihre Thätigkeit überall durch die Regierung lahm gelegt war, fühlten
sie sich nicht mehr als unmittelbare Glieder eines Ganzen, jeder verfolgte seine eigenen
Zwecke, jeder Gemeinsinn war erkaltet.
So fanden die unglücklichen Ereignisse der Jahre 1806 und 1807 überall eine
Bürgerschaft, die, nicht gewöhnt, ihre alltäglichen Angelegenheiten zu besorgen, den großen
Anforderungen des Krieges nach keiner Richtung hin genügen konnte. Jetzt zeigte sich
die Unzulänglichkeit der bestehenden Verfassung. Dieselbe Gleichgültigkeit öffentlichen
Dingen gegenüber wie unter den Bürgern der Städte herrschte damals in allen Kreisen
der Gesellschaft. „An der Teilnahmslosigkeit des Kapitalbesitzes, des Handels= und
Gewerbestandes, wie des Kleingrundbesitzes, an der egoistischen Verzweiflung des herr-
schenden Großgrundbesitzes und Beamtentums war der Staat zu Grunde gegangen.“ #
Die Regierung erkannte die Notwendigkeit einer umfassenden Reform in Gesetzgebung
und Verwaltung, welche nicht nur die Städte, sondern ebenso die Landgemeinden, die
Kreise, die Provinzial= und Centralbehörden ergreifen mußte.
Die Leitung dieses großen Reformwerkes wurde dem Freiherrn von Stein über-
tragen, welcher damals eben an die Spitze des Staates getreten war.? Sein Ziel war
„die Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns .., der Einklang zwischen dem Geist
der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen, und denen der Staatsbehörden, die Wieder-
belebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre“. Erreicht sollte
dieses dadurch werden, daß die Unterthanen selbst an der öffentlichen Verwaltung
Anteil erhielten und den Staat durch persönliche Dienste, nicht nur durch Steuern unter-
stützten. Die Kommunen besonders sollten von jeder Bevormundung befreit und die
Verwaltung ihrer Angelegenheiten lediglich aus der Mitte der Bürgerschaft und durch
sie gewählten Behörden überlassen werden. Bereits in der Nassauer Denkschrift vom
Juni 1807 hatte Stein sich in diesem Sinne ausgesprochen. In der Städteordnung
v. 19. Nov. 1808 (G. S. 1806—10, S. 324), deren unmittelbare Grundlagen zwar in
den Arbeiten des Staatsministers von Schrötter und des Geheimen Kriegsrats und Polizei-
direktors Frey zu suchen sind, deren geistiger Urheber aber kein anderer als Stein war,
haben seine Tendenzen dann ihre vollste Verwirklichung gefunden.“ Während in den Rhein-
bundstaaten mit Einführung der Napoleonischen Gesetzgebung zu gleicher Zeit die letzten Reste
der Gemeindefreiheit zu Gunsten des Staatsabsolutismus beseitigt wurden, die städtische Ver-
waltung in die Hände staatlich ernannter und jederzeit absetzbarer Beamten gelegt und das
Gemeindevermögen einfach als Staatsvermögen behandelt wurde 5, ward in Preußen mit
der Steinschen Städteordnung die Freiheit aller Städte proklamiert. Die Städte wurden
wieder als selbständige Gemeinwesen anerkannt, es wurde ihnen eine selbständigere Ver-
fassung gegeben, in den Bürgergemeinden wurden feste Vereinigungspunkte gebildet, den
Bürgern wurde eine thätige Einwirkung auf die Verwaltung ihrer eigenen Angelegen-
heiten eingeräumt, die Staatsaufsicht aber auf das Notwendigste beschränkt. So war
die Städteordnung von 1808 für die preußischen Städte eine wahre magna charta,
durch welche sie ihre Municipalfreiheit empfingen, sie enthielt aber auch die Grundlagen,
auf welchen sich später in ganz Deutschland die kommunale Freiheit und Selbst-
verwaltung der Städte entwickelt hat.G — Durch sie ist der Freiherr von Stein „in
tieferm Sinne als König Heinrich, der bloß Festungen bauen konnte, der Städteerbauer
Deutschlands geworden“.7
1 Bornhack, Gesch., II, S. 1. deutsche Verwaltungs-Beamtentum geschaffen
: E. Meier, S. 133 ff.; Treitschke, Deutsche
Geschichte, I, S. 270 ff.
Pertz, Bd. I (Berlin 1849), S. 415 ff.;
E. Meier, S. 39 ff.
*E. Meier, S. 147; Treitschke, Deutsche
Geschichte, 1, S. 284.
* Vgl. unten §. 8.
NTreitschke, Deutsche Geschichte, I. S. 286:
„Wie der erste Friedrich Wilbelm das moderne
hatte, so wurde Steins Städteordnung der
Ausgangspunkt für die deutsche Selbstverwal-
tung. Auf ihr fußten alle die neuen Gemeinde-
gesetze, welche durch zwei Menschenalter, solange
der Parlamentarismus noch unreif und unfertig
dastand, den bewährtesten, den bestgesicherten
Teil deutscher Volksfreiheit gebildet baben.“
7 Dablmann, Politik, S. 241.