Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Ergänzungsband. Das Recht der Kommunalverbände in Preußen. (4)

Kreisgemeinden; geschichtliche Entwidelung der Kreisgemeinden. (8. 104.) 373 
auf die bezeichneten Provinzen wurde in den Motiven des Entwurfes damit begründet, 
daß sich nach Äußerungen der Vertreter der westlichen Provinzen in Rheinland 
und Westfalen nicht ein gleich dringendes Bedürfnis zur durchgreifenden Änderung der 
Kreisverfassung wie im Osten der Monarchie herausgestellt habe, daß es aber, was die 
neuen Provinzen anlange, bedenklich erschiene, die dort soeben erst ins Leben getretenen 
Kreisordnungen ohne dringende Veranlassung wieder zu beseitigen.! 
Auch dieser Entwurf (I) gelangte zu keiner definitiven Beschlußfassung im Ab- 
geordnetenhause; wegen Schlusses der Session wurde mitten in den Durchberatungen 
abgebrochen.? Die Regierung änderte ihn nunmehr unter Berücksichtigung der Er- 
örterungen und Beschlüsse des Abgeordnetenhauses und der Kommissionen desselben in 
mehreren Punkten ab und legte ihn auf Grund Allerhöchster Ermächtigung v. 20. Dez. 
1871 in modifizierter Fassung dem Abgeordnetenhause in der Session 1871—72 aber- 
mals vor (II).3 Dieses Mal schienen die Verhandlungen einen günstigeren Verlauf 
zu nehmen; im Abgeordnetenhause wurde der Entwurf nach kürzeren Beratungen, wenn 
auch unter mannigfaltigen Abänderungen, mit einer Mehrheit von 256 gegen 61 Stim- 
men angenommen"“; allein er scheiterte im Herrenhause. Hier war die Mehrzahl der 
Mitglieder der Ansicht, daß die bestehende Kreisverfassung, insbesondere die ständische 
Gliederung, im großen Ganzen den Bedürfnissen entspreche, daß allerdings Mängel 
vorhanden seien in Bezug auf die Kreisvertretung, diesen aber zweckmäßiger durch ein- 
zelne Abänderungsgesetze abgeholfen werden könne als durch den Erlaß eines umfassenden, 
die lokalen und prinzipiellen Verschiedenheiten nicht genügend berücksichtigenden Gesetzes. 
Der Entwurf wurde daher mit 145 gegen 18 Stimmen abgelehnt.“ 
Die Folge dieser am 31. Okt. 1872 erfolgten Ablehnung des Entwurfs im Herren- 
hause war die Schließung der Session am 1. Nov. 1872. Aus Allerhöchstem Vertrauen 
erfolgten alsbald 25 neue Berufungen ins Herrenhaus, schon auf den 12. Nov. 1872 
wurde der Landtag zu einer neuen Session berufen und schon am 16. Nov. 1872 legte 
die Regierung den dritten Entwurf (III) einer Kreisordnung dem Abgeordnetenhause 
vor.“ Dieser Entwurf, welcher bis auf wenige Punkte mit dem zweiten Entwurfe, wie 
er durch die Beschlüsse des Abgeordnetenhauses abgeändert war, übereinstimmte, gedieh 
endlich zum Gesetz. In beiden Häusern des Landtages wurde er unverändert ange- 
nommen — im Abgeordnetenhause mit 288 gegen 91, im Herrenhause mit 116 gegen 
91 Stimmen —" und am 13. Dez. 1872 als Kreisordnung für die Provinzen 
Preußen, Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien und Sachsen publi- 
ziert. (G. S., S. 661.) 
II. Der Inhalt dieses Gesetzes, welcher die kommunale Verfassung und Verwaltung 
der Kreise betrifft, bildet den Hauptgegenstand der Darstellung des geltenden Rechtes. 
Hier sind nur einzelne Punkte hervorzuheben, welche den Geist und die Bedeutung der 
neuen Kreisordnung gegenüber dem älteren Rechte charakterisieren: 
1) Die Kreise, welche bisher nur Korporationen zur Erfüllung einzelner, gesetz- 
lich eng begrenzter öffentlicher Zwecke waren, „mehr mit passiver Leistungspflicht als 
aktiver Selbstbestimmung“, sind durch die Kreisordnung umgebildet „zu vollen Kom- 
munalverbänden oder Kreisgemeinden, behufs Selbstverwaltung ihrer eigenen 
Angelegenheiten wie zur Erfüllung staatlicher Aufgaben, welche über das Gebiet der 
  
1 v. Brauchitsch, Die Organisationsgesetze Über die Plenarverhandlungen im A. H. vgl. 
der inneren Verwaltung in Preußen, Mate- 
rialien, Tl. I, S. 1—163; Drucks. des A. H. 
1869, Nr. 4, Anl. zu den Stenogr. Ber., Bd. I, 
S. 1 ff. Die Grundzüge dieses Entw. teilt 
mit v. Stengel, Organisation, S. 144 ff. 
2 Vgl. über die Beratungen v. Brauchitsch, 
Materialien, Tl. I. S. 167—345; Stenogr. 
Ber. des A. H. 1869, I, S. 67—89, 91—119, 
121—142. 
* v. Brauchitsch, Materialien, Tl. I, S. 
353—362; Drucks. des A. H. 1871—72, Nr. 89. 
* Vgl. den Komm. Ber. des A. H. über die 
Regierungsvorlage; Stenogr. Ber. des A. H. 
1871—72, III, S. 1314 ff., Aktenstück Nr. 239. 
  
v. Brauchitsch, Materialien, Tl. II, S. 636 
—1124; Stenogr. Ber. des A. H. 1871—72, 
III. S. 1310—1493. 
5* v. Brauchitsch, Materialien, Tl. II, S. 
1127—1251; III. S. 1255—1748; Stenogr. 
Ber. des H. H. 1871—72, L, S. 365—376, 
379—402, 403—574. 
* v. Brauchitsch, Materialien, Tl. IV, S. 
2423—2585; Drucks. des A. H. 1872—73, Nr. 14. 
7 v. Brauchitsch, Materialien, Tl. III, S. 
1749—1983, 1989—2106; Stenogr. Ber. ded 
A. H., S. 23—52, 68—141; Stenogr. Ber. 
des H. H., S. 15—56, 64—70.
	        
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