Provinzialgemeinden; geschichtliche Entwickelung der Provinzialgemeinden. (§. 129.) 431
war in dem brandenburgisch-preußischen Staate ihre politische Bedeutung vernichtet, seit
der Große Kurfürst ihnen das Steuerbewilligungsrecht, die eigentliche Grundlage ihrer
Machtstellung, entrungen hatte, allein minder bedeutende Befugnisse, wie die Verwaltung
des Grundsteuer-, Landarmen-, Feuersozietäts-, landschaftlichen Kredit= und Hypotheken-
wesens wurden ihnen belassen, und so haben sie sich in Ausübung dieser bis in die
neuere Zeit am Leben erhalten. Besonders ausgebildet waren sie in der Mark Bran-
denburg, in Preußen, Pommern, Magdeburg und in den 1814 und 1815
erworbenen Gebietsteilen, vornehmlich in der Lausitz. Auf diese Üüberreste mittelalter-
licher Staatsverfassung wurde am Anfange dieses Jahrhunderts zurückgegriffen, und zwar
zunächst gelegentlich der beabsichtigten Ausführung des Steinschen Gedankens von der
„allgemeinen Nationalrepräsentation“ 1 für den ganzen Staat, welche aus den einzelnen
Provinzialständen hervorgehen sollte. Es erging daher, nachdem das preußische Staats-
gebiet zunächst durch die Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-
behörden v. 30. April 1815 (G. S., S. 85) zum Zweck der staatlichen Verwaltung in
Anlehnung an seine historische Entwickelung in zehn, nachmals acht Provinzen? eingeteilt
worden war, die Verordnung v. 22. Mai 1815, betreffend die zu bildende Repräsentation
des Volkes (G. S., S. 103), welche bestimmte, daß die Provinzialstände da, wo sie noch
vorhanden waren, dem Bedürfnis der Zeit gemäß einzurichten, wo sie aber fehlten, neu
einzuführen seien. Gleichzeitig wurde eine Kommission zur Ausführung dieser Verord-
nung unter dem Vorsitze des Staatskanzlers Hardenberg eingesetzt, welche mit der
Reorganisation der Provinzialstände, der Organisation der neuzubildenden Landes-
repräsentanz und mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs betraut wurde. Allein
die Verhandlungen derselben führten ebenso wie die mehrerer späterer Kommissionen zu
keinem Resultate, und die Krone beschloß daher, von dem Erlasse einer Verfassungs-
urkunde zur Zeit überhaupt abzusehen, die Reorganisation der Provinzialstände jedoch
„wegen der großen Verschiedenheit der Provinzen“ provinziell vorzunehmen. Aus diesen
Erwägungen ging das „allgemeine Gesetz wegen Anordnung der Provinzialstände“ v.
5. Juni 1823 (G. S., S. 129) hervor, welches die Provinzialstände als das „gesetz-
mäßige Organ der verschiedenen Stände der Unterthanen in jeder Provinz“ bezeichnete
und ihnen folgende Befugnisse beilegte: a) sie sollten über alle Gesetzentwürfe, welche
allein die Provinz angingen, beraten, d) ihnen sollten bis zum Zustandekommen einer
allgemeinen ständischen Versammlung auch die Entwürfe solcher allgemeinen Gesetze, welche
Veränderungen in Personen= und Eigentumsrechten und in den Steuern zum Gegen-
stande hatten, soweit sie die Provinz betrafen, zur Beratung vorgelegt werden, c) sie
sollten befugt sein, Bitten und Beschwerden, welche das spezielle Wohl und Interesse
der ganzen Provinz oder eines Teiles derselben betrafen, bei der Krone vorzubringen,
und endlich d) sie sollten, vorbehaltlich königlicher Genehmigung und Aufsicht, über alle
Kommunalangelegenheiten der Provinz beschließen.
Möller. Ferner: Bornhack, Geschichte des : Die zehn Provinzen waren: Ostpreußen,
preuß. Verw. R., bes. III, S. 81 ff. — Derselbe,
Preuß. Staatsrecht, II, S. 326 ff. — v. Rönne,
Staatsrecht d. preuß. Monarchie, 3. Aufl., I,
2. Abt. (1870), S. 477—528. — v. Stengel,
Die Organisation der preuß. Verwaltung, S. 94 ff.,
131 ff., 138 ff., 150 ff. u. 171 ff. — Schulze,
Preuß. Staatsrecht, 1, S. 524 ff. Die speziellen
Verhältnisse einzelner Provinzen behandeln:
Benzenberg, Uber Provinzialverfassung mit
besonderer Rücksicht der vier Länder Jülich,
Kleve, Berg und Mark. — Voigt, Darstellung
der ständischen Verhältnisse Ostpreußens (Königs-
berg 1832). — Kries, Historische Entwickelung
der Steuerverfassung in Schlesien unter Teil-
nahme der allgemeinen Landtagsversammlungen
(Breslau 1842). — Wuttke, Die schlesischen
Stände, ihr Wesen, ihr Wirken und Wert in
alter und neuer Zeit (Leipzig 1847).
1 Stein, Politisches Testament, Z. 4; das-
selbe ist im Auszuge mitgeteilt bei v. Rönne,
Staatsrecht d. preuß. Monarchie, 4. Aufl., I, S. 13.
Westpreußen, Brandenburg, Pommern,
Schlesien, Posen, Sachsen, Westfalen,
Kleve-Berg und Niederrhein. Diese Ver-
waltungseinteilung des altpreußischen Staats
wurde wiederholt abgeändert. Durch Kab. Ordre
v. 3. Dez. 1829 wurden Ost= und West-
preußen zu einer Provinz Preußen, und
durch Kab. Ordres v. 3. Febr. 1820, 26. Mai
1821 und 3. Dez. 1829 wurden die Provinzen
Kleve-Mark und Niederrhein zur Rhein-
provinz vereinigt, so daß es bis zu den Neu-
erwerbungen von 1866 nur acht Provinzen gab.
Im Jahre 1877 wurden aber durch Gesetz vom
19. März (G. S., S. 107) aus der Provinz
Preußen wieder zwei Provinzen Ost= und
Westpreußen gebildet, sodaß es gegenwärtig
neun sogen. alte Provinzen giebt. Näheres über
die Einteilung des Staates in Provinzen siehe
bei v. Rönne, Staatsrecht d. preuß. Monarchie,
4. Aufl., III, S. 5 ff.