36 Zweiter Absquitt. (. 8.)
In Ausführung dieses Artikels erging unterm 11. März 1850 (G. S., S. 213)
eine Gemeindeordnung für den preußischen Staat. Diese ist besonders von zwei neuen
Grundsätzen durchdrungen: die Verschiedenheiten der bisherigen Gemeindeverfassungen
sollen durch Emanation eines, alle Gemeinden des ganzen Staates umfassenden Ge-
setzes ausgeglichen werden, daher ist das neue Gesetz für alle Stadt= und Landgemeinden
gleichmäßig bestimmt; und es soll das im Art. 105 den Gemeinden zugesicherte Recht
der Selbstverwaltung auch in den Aussichtsinstanzen gewahrt werden, daher sind die
aus dem Oberaufsichtsrechte des Staates fließenden Befugnisse nicht mehr durch Staats-
behörden, sondern durch aus Wahlen der Gemeinde selbst hervorgegangene Organe, durch
die neugeschaffenen 1 Kreisausschüsse und Bezirksräte auszuüben, während die Mitwirkung
des Staates auf die Übertragung des Vorsitzes in diesen Kollegien an königliche Beamte
beschränkt wird.
Im übrigen ergiebt sich schon aus dem erwähnten Motive des Gesetzes, eine Ge-
meindeordnung auf den Kapitalbesitz aufzubauen, daß die Neuerungen, welche dasselbe
mit sich brachte, für das platte Land erheblichere sein mußten als für die Städte, die ja
von jeher der Sitz des Kapitalismus gewesen waren und eine dementsprechende Ver-
fassung gehabt hatten. Als revolutionär kann die Gemeindeordnung nur hinsichtlich der
Landgemeinden bezeichnet werden; ihre Tendenz, sich an das bestehende Städterecht möglichst
nah anzulehnen, läßt sich schon aus ihren Motiven und den Kammerverhandlungen nach-
weisen, in welchen fast bei jedem Paragraphen auf die entsprechenden Vorschriften der
Städteordnungen von 1808 und 1831 zurückgegangen wurde. Die meisten Bestimmungen
der Gemeindeordnung sind in die späteren, heute geltenden Städteordnungen übergegangen,
und zwar finden sie sich gerade in derjenigen Fassung der letzteren am vollständigsten
wieder, welche diese durch die neue Verwaltungsgesetzgebung erhalten haben, — auch
heute wird wieder die Aufsicht über die Gemeinden in weitem Umfange durch Organe
geübt, welche von den Gemeinden selbst oder von anderen Verbänden gewählt sind, durch
Kreisausschüsse, Bezirksausschüsse und Provinzialräte.
B. Mit Rücksicht hierauf kann von einer Wiedergabe des Inhaltes der Gemeinde-
ordnung abgesehen werden, nur die bemerkenswertesten Vorschriften derselben seien im
Folgenden kurz skizziert:
I1. Die Gemeindeordnung teilt alle, Stadt= wie Landgemeinden in zwei Klassen,
je nachdem die Zahl der Einwohner mehr oder weniger als 1500 beträgt.: Indem sie
davon ausgeht, daß in ersteren wohl mehr städtische, in letzteren wohl mehr ländliche
Verhältnisse herrschen würden, giebt sie letzteren eine einfachere Verfassung; die Ab-
weichungen dieser von der für die Gemeinden mit mehr als 1500 Einwohnern vorgeschrie-
benen Verfassung sind aber im wesentlichen keine materiellen, es handelt sich besonders
um anderweite Festsetzung der Zahl der Mitglieder der Gemeindeorgane und ährliche
Modifikationen, welche der geringere Umfang und die geringere Mitgliederzahl dieser
kleineren Gemeinden erforderlich machen.5
II. Der Begriff des Bürgers ist der Gemeindeordnung fremd, sie kennt nur
Gemeindeangehörige und zu diesen gehören auch die Militärpersonen. An Stelle der
Bürgergemeinde setzt sie die Einwohnergemeinde", an Stelle des Bürgerrechts das Ge-
meindewahlrecht. Dieses ist lediglich ein Recht, eine Pflicht zur Ruslüung desselben
besteht nicht mehr.
III. Der Jnhalt dieses Wahlrechts, welches früher einen integrierenden Vestandteil
des Bürgerrechts bildete, jetzt aber zum selbständigen Rechte geworden ist, ist nicht mehr
bei jedem einzelnen Wähler der nämliche. Er ist im Interesse des Besitzes modifiziert,
und hierin liegt wohl die praktisch wichtigste Neuerung der Gemeindeordnung gegenüber
den alten Städteordnungen. Von der Auffassung ausgehend, daß alle Gemeinderechte
ein Korrelat der Gemeindepflichten sind, kam man dazu, daß auch die Quantität der
1 Bgl. die Kreis-, Bezirks= und Provinzial-eSS. 10—67, die der kleineren Gemeinden in
ordnung v. 11. März 1850 und unten S§. 103. ii III, 6. 68—125 geregelt.
: G. O., 8. 9; vgl. die Motive zu diesem 8. 2. Tit. III, §. 68 ff.
bei v. Rönne, G. O., S. 78. Die Verhält- " 8 * 2 u. 3.
nisse der größeren Gemeinden sind in Titel II. * G. .. . 4.