Ortsgemeinden; das geltende Recht. (8. 19.) 81
des Bürgerrechtes blieb nur noch das aktive und passive Wahlrecht zu Stellen in den
Gemeindeorganen und die Teilnahme an den Gemeindenutzungen.
Bei dieser Rechtsentwickelung hatte das alte Bürgerrecht seine Bedeutung völlig
verloren, und man kam dahin, an die Stelle des durch Geburt oder Verleihung er-
worbenen Bürgerrechtes die Thatsache des Aufenthaltes zur Grundlage der politischen
Gemeinderechte zu machen. An die Stelle der geschlossenen Bürgergemeinde
trat die Einwohnergemeinde. In dieser sind alle Einwohner des Stadtbezirkes
Gemeindemitglieder. Die Gemeindemitgliedschaft wird mit der Wohnsitznahme kraft
Gesetzes erworben. Alle Einwohner sind zur Mitbenutzung der öffentlichen Gemeinde-
nutzungen und zur Teilnahme an den Nutzungen des Gemeindevermögens berechtigt und —
nach Reichsgesetz unter der Voraussetzung eines Aufenthaltes von mindestens drei Monaten —
gleichmäßig zur Tragung der Gemeindelasten verpflichtet. Von besonderen Voraussetzungen
abhängig ist nur noch das Recht zur Teilnahme an den Gemeindewahlen und zur Bekleidung
von Gemeindeämtern, welches von der neuen Städteordnung als Bürgerrecht bezeichnet wird.
Auch dieses Bürgerrecht wird unabhängig von dem Willen des Einzelnen und einer Ver-
leihung seitens der städtischen Behörden kraft Gesetzes erworben, sobald die erforderlichen
Eigenschaften sich in der Person eines Einwohners vereinigen; es geht kraft Gesetzes verloren,
sobald eine dieser Eigenschaften zufällig wegfällt. Einen Verzicht auf dieses Bürgerrecht giebt
es ebensowenig, wie man dasselbe nicht mit sich tragen kann nach Aufgabe des Wohnsitzes.
Für die altpreußischen Gebietsteile war diese Umbildung der Gemeinde durch die
Gemeindeordnung von 1850 vollendet, welche ein „Bürgerrecht“ überhaupt nicht kennt,
sondern nur ein Gemeindewahlrecht. Ihren Anfang nahm sie mit der Städteordnung
von 1831, welche das Bürgerrecht zwar noch durch Verleihung erwerben läßt, als
Inhalt vesselben jedoch nur das Gemeindewahlrecht bezeichnet und bereits die Schutz-
verwandten gleich den Bürgern zur Tragung der Gemeindelasten heranzieht, während die
Städteordnung von 1808 noch das alte Bürgerrecht in vollem Umfange anerkennt und
die Schutzverwandten im geringerem Maße als die Bürger mit Abgaben belastet.
Die Bestimmungen der Gemeindeordnung sind übergegangen in die Städteordnungen
von 1853, 1856, 1867, 1869 und 1891 und haben dann auch über Preußen hinaus
Aufnahme gefunden in Baden 1, Oldenburg ?, der bayerischen Pfalz?, Elsaß-Lothringen“
und im Großherzogtum Hessen.
Die älteren, heute in Preußen noch geltenden Gemeindeordnungen, so besonders die
nassauische, die kurhessische und die hohenzollernschen haben dagegen die geschlossene
Bürgergemeinde beibehalten, die auch in Bayern diesseits des Rheines 5, in Württem-
berg', Anhalts und Sachsen-Weimars besteht, während die Städteordnungen für Hannover
und Sachsen0 eine Mittelstellung einnehmen.
lichen Beschränkungen der Eheschließung v.
4. Mai 1868 und Gesetz über die Beurkundung
des Personenstandes v. 6. Febr. 1875.
1 Hier aber nur für die Städte. St. O. v.
24. Juni 1874. In den Landgemeinden besteht
noch die alte Bürgergemeinde nach dem Gesetz
v. 31. Dez. 1831.
2 G. O. v. 15. April 1873.
3 Pfälzische G. O. v. 29. April 1869 und
Gesetz v. 19. Jan. 1872. Seydel, II, S. 77 ff.
4 Hier ist das überkommene französische Recht
nicht wesentlich geändert. Sie Näheres bei
O. Mayer, Theorie des franz. Verw. R. (Frei-
burg 1886), S. 442 zu 1; daselbst sind in Anm. 3
die geltenden Ges. mitgeteilt.
* Die noch in den preußischen Teilen gel-
tende, die Bürgergemeinde anerkennende alte
G. O. v. 30. Juni 1821 ist im Großherzogtum
durch eine St. O. v. 13. Juni und eine L. G. O.
r. 15. Juni 1874 ersetzt. Diese Gesetze bringen
die Einwohnergemeinde zur Anerkennung, indem
sie neben den Ortsbürgern allen männlichen,
dem Deutschen Reiche angehörenden, 25 Jahre
Schoen.
alten, schom im vorhergegangenen Kalender-
jahre zur Einkommensteuer veranlagten Ein-
wohnern, welche seit zwei Jahren den Unter-
stützungswohnsitz in der Gemeinde besitzen, das
Gemeindewahlrecht geben, sofern sie in den
Städten ihre Aufnahme in die Wählerliste be-
sonders beantragt haben. Das durch Geburt
und Aufnahme zu erwerbende Ortsbürgerrecht
gewährt keine besonderen politischen Rechte
mehr, sondern ist nur Voraussetzung für die
Teilnahme an den Nutzungen des Gemeinde-
vermögens.
6 G. O. für die bayerischen Landesteile dies-
seits des Rheines v. 29. April 1869, abgeändert
durch Ges. v. 19. Jan. 1872. Seydel, II,
S. 77, 86 ff.
7 Gemeindeangehörigkeitsgesetz v. 16. Juni
1885.
* Gemeinde-, Stadt= und Dorfordnung v.
13. April 1882.
* Neue G. O. v. 24. Juni 1874.
% St. O. v. 24. April 1873 und St. O. für
mittlere und kleine Städte vom gleichen Datum.
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