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der Ausschrift: „An Seine Majestät den Kaiser Friedrich!“ Ohne sie zu öffnen, legte
er sie beiseite und begann heftig zu weinen. Er wußte, was sie enthielt. Nun litt
es ihn nicht länger im fremden Lande. Er entschloß sich sofort zur Heimkehr. Die
Arzte baten ihn dringend, die Reise noch aufzuschieben. Er aber sagte: „Und wenn
ich unterwegs sterben müßte, ich kehre doch zurück.“ An der Beisetzungsfeier seines
Vaters konnte er der rauhen Witterung wegen nicht teilnehmen. Doch stand er,
während der Leichenzug am Stadtschlosse in Charlottenburg vorüberzog, am Fenster
und schaute tränenden Auges seinem geliebten Vater nach. Seit seiner Abreise
vor etwa Jahresfrist hatte er ihn nicht mehr gesehen, auch auf dem Totenbette sollte
er ihn nicht wiedersehen. — Mit unermüdlichem Eifer erledigte der Kaiser trotz seiner
Schwäche die Regierungsgeschäfte, und wie sein erhabener Vater selbst auf dem
Sterbebette keine Zeit hatte, müde zu sein, so hatte er keine Zeit, krank zu sein.
6. Tod. Doch nur wenige Tage noch waren dem Kaiser Friedrich beschieden.
Das Leiden wurde so bösartig, daß alle Hoffnung auf Besserung schwand. Seinem
Sohne, unserem Kaiser, schrieb er auf einen Zettel: „Lerne leiden, ohne zu klagen,
das ist das Beste, was ich Dich lehren kann.“ Am Tage vor seinem Tode hatte die
zweitjüngste Tochter des Kaisers ihren Geburtstag. Als sie zu ihm kam, um sich
den Glückwunsch des geliebten Vaters zu holen, schrieb er ihr ins Stammbuch: „Bleibe
fromm und gut, wie du bisher warst; das ist der letzte Wunsch deines sterbenden
Vaters.“ Die Kräfte des Kaisers sanken von Stunde zu Stunde, und am Vor-
mittage des 15. Juni fand der königliche Dulder endlich Erlösung von seinen furcht-
baren Leiden. Drei Tage später wurde seine Leiche in der Friedenskirche zu Potsdam
beigesetzt. — Ganz Deutschland beweinte den Tod seines Lieblings. Nur kurze
Zeit — 99 Tage — hat sein Haupt im Glanze der Königskrone gestrahlt.
3. WMilbelm II.
(seit 15. Juni 1888).
1. Jugend und Ausbildung. Unser Kaiser Wilhelm II., der älteste Sohn
Kaiser Friedrichs, wurde am 27. Januar 1859 zu Berlin geboren. Den ersten
Unterricht erhielt Prinz Wilhelm im Schlosse. Der Vater hielt streng darauf, daß
an Fleiß, Pünktlichkeit und Ausdauer seines Sohnes die höchsten Anforderungen
gestellt wurden. Nach dem Unterricht wurde exerziert, geturnt und gerudert, um
auch den Körper zu kräftigen. Nachdem der Prinz im Herbst 1874 konfirmiert worden
war, brachten ihn seine Eltern selbst auf das Gymnasium nach Kassel. Seine Lehrer
waren angewiesen, mit dem Prinzen gar keine Ausnahme zu machen. Sie nannten
ihn „Prinz Wilhelm“ und „Sie“, nicht „Königliche Hoheit". Jeden Morgen er-
schien er mit den Büchern unter dem Arm im Gymnasium und nahm seinen Platz
auf der Schulbank ein. Auch in seiner Kleidung unterschied er sich in nichts von
seinen Mitschülern. Wie diese trug auch er die vorgeschriebene Klassenmütze. Seine
Schularbeiten fertigte er stets mit der größten Gewissenhaftigkeit an, und alle seine
Lehrer rühmten seinen ernsten Fleiß. Nach drei Jahren bestand er die Abgangs-
prüfung. Später bezog der Prinz die Universität Bonn, wo er Geschichte, Rechts-
und Staatswissenschaften studierte. Kein Geringerer als Fürst Bismarck führte
ihn sodann in die Staatskunst ein. — Im Alter von 18 Jahren trat der Prinz als
Leutnant beim 1. Garderegiment zu Fuß in Potsdam ein. Sein Großvater, Kaiser
Wilhelm I., ermahnte ihn vor den versammelten Offizieren, ein tüchtiger Soldat