— 71 —
über 2 Million Einwohner zählende Königreich bildete ein viel
mehr in sich abgeschlossenes Gebiet als jetzt. Es fand zwar eine
rasche Weiterentwickelung der Eisenbahnen in diesen Jahren statt,
doch beherrschten Dampf und Elektrizität noch nicht die Welt.
Der große soziale Kampf im Volke war noch nicht entbrannt;
die Sachsen waren ruhig, zufrieden, wohlhabend und erfreuten
sich des milden und gerechten Regiments ihres angestammten
Fürstenhauses.
Dresdens Einwohnerzahl überschritt Ende der fünfziger Jahre
das erste Hunderttausend, während sie sich jetzt dem vierten nähert.
Die Stadt trug ein aristokratisches Gepräge, sie neigte mehr den
idealen als den materiellen Interessen zu. Der Handel war
gering, Industrie kaum vorhanden. Es herrschte kein Luxus in der
Lebensführung. Das Gold hatte noch nicht die große Macht, welche
es jetzt besitzt. Reichtum war nur an wenigen Stellen vorhanden,
wohl aber herrschte eine weit verbreitete Behaglichkeit, ein ein-
facher Lebensgenuß. Herder hatte in seiner Adrastea mit Recht
Dresden „Elbflorenz“ genannt mit den Worten: „Blühe, deut-
sches Florenz, mit deinen Schätzen der Kunstwelt.“ Natur und
Kunst machten die Residenz zu einem der anziehendsten Wohn-
sitze. Die liebliche Gegend wuchs bis in die Stadt hinein; keine
Fabrikesse ragte in den freundlichen Vorstädten empor, die ge-
schlossenen Häuserreihen kletterten noch nicht an den die Stadt
umkränzenden Höhenzügen hinauf. Der Spaziergänger war auf
dem Lande, wenn er Blasewitz, Räcknitz, Plauen oder Neudorf
erreicht hatte. Freundlich lachten dem Beschauer vom Balkon
Dresdens, der Brühlschen Terrasse, aus gesehen, die blinkenden
Villen und Winzerhäuser an den grünen, rebenbewachsenen Berg-