— 202 —
durch die Oberlausitzer Jutespinnerei erhalten, in der sich gegen
1500 Spindeln drehen, um aus den seidenartigen Fasern der indischen
Pflanze ein bräunlichgelbes Garn zu gewinnen. Es ist überraschend,
welch schönen Glanz dann die fertigen Gewebe entfalten, besonders
wenn die farbigen Muster noch mit Goldfäden durchwirkt werden.
Nun können sie als Teppiche den Boden, als Decken die Tische, als
Gardinen die Bürgerhäuser schmücken, um die Lichtfülle der Zimmer
zu dämpfen. Solche Gewebe hilft die Neiße bei Ostritz bereiten
und fügt damit der Flachsspinnerei bei Hirschfelde einen zweiten
wichtigen Erwerbszweig der Lausitz zu. Wir halten daher fest,
daß an ihrem linken Ufer die Oststadt Sachsens liegt,
welche den größten Marktplatz der Lausitz, eine katholische
Kirche, eine protestantische Schule und Kirche, eine Inte-
spinnerei und Kruzifixe auf den Höhen besitzt.
6. Ist dann die Neiße vollständig in die Niederung getreten,
so nimmt sie jenseits der Landesgrenze die Pließnitz auf. An ihr
gehen wir zurück, um im Gebiete dieses Nebenflusses noch einen
zweiten kleinen Ort Sachsens kennen zu lernen, der in Geschichte
und Bedeutung doch zu den größten unseres Vaterlandes gehört.
Vor 180 Jahren lag an der linken Pließnitzseite, etwa 10 km
südöstlich von Löbau, ein wasser= und sumpfreiches Waldgebiet. Nur
der niedere Hutberg (364 m) wölbte sich als greifbare Landes
marke aus der feuchten Wiesen= und Waldlandschaft auf. Den
Grund und Boden am Hutberge schenkte Graf Ludwig von Zinzendorf
vertriebenen böhmisch-mährischen Brüdern, die hier eine neue Heimat
fanden. Jetzt erklang die Axt im Walde (17. Juni 1722), die
Stämme fügten sich zum Stein, ein Wohnhaus entstand neben dem
andern, das einfache Bethaus erhob sich am Markte: der Ort
Herruhnt (1½/A T.) war gegründet. Welch schmucker Ort ist heute
aus dieser Ansiedelung geworden! Nette Häuser, von Gärtchen um-
geben, schließen sich zu reinlichen Straßen zusammen. Die Haus-
türen sind geschlossen; denn die Familien meiden den Lärm der
Straßen und die rauschenden Vergnügungen der Welt. Täglich ruft
sie das Glöcklein in den einfach getünchten Betsaal, in dem die
Brüder und Schwestern der Glaubensgemeinde auch das Liebesmahl
halten. Einfache Grabplatten decken die Grüfte auf dem Gottesacker,
geben nur Namen, Geburts= und Sterbetag der Toten an und sind
beredte Zeugen von der Verbreitung der Gemeinde auf unserem
Erdballe. Denn die Herrnhuter bilden eine besondere Religions-
gesellschaft unseres Landes mit einem Bekenntnisse, das unserem
lutherischen verwandt ist. Die Verwaltung der Gemeinde liegt in
den Häuden der Altesten, die in dem nahen Berthelsdorf ihren
Sitz haben. Die geistliche Leitung übernimmt der erste Prediger,
der den Namen Bischof führt. Unverheiratete oder verwitwete
Brüder oder Schwestern wohnen in besonderen Häusern und
arbeiten im Dienste der Gemeinde. Bei festlichen Gelegenheiten
tragen die Mädchen dunkelrote, die Jungfrauen rosenfarbene, die