Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dritter Jahrgang. 1862. (3)

Uebersicht der Ereignisse des Jahres 1862. 
Das Jahr 1862 verlief, wie es begonnen hatte, ohne daß der 
Friede in Mitteleuropa gestört oder auch nur ernstlich bedroht worden 
wäre. Aber von den tiefgreifenden Fragen, welche fast jeden einzelnen 
der größeren Staaten beschäftigten, wurde auch nicht eine gelöst. Fast 
überall erschien zu Ende des Jahres der Knoten nur fester geschürzt. 
Am dringendsten schien die Lösung der italienischen Frage. Die Jualien. 
allgemeinen Verhältnisse Europa's wie die eigenen Fehler warfen jedoch 
Italien von dem angestrebten Ziele vielmehr zurück, als daß es demselben 
sich genähert hätte. Das neue Staatswesen blieb ein unfertiges und ein 
Umschlag der Dinge erschien noch immer nicht unmöglich. Zu früh hatte 
Italien seinen großen. Staatsmann verloren: vielleicht wäre es Cavour 
gelungen, die ganze Kraft der Nation zusammen zu fassen und auf die innere 
Durchdringung und Consolidirung des Gewonnenen hinzulenken, um so 
allmälig und unter steter, ernster Arbeit eine Grundlage zu gewinnen, von 
der aus es allein die Erfüllung seiner nationalen Wünsche hoffen und aus 
eigener Kraft anstreben konnte. Nach seinem Tode geschah im Grunde 
nur weniges in dieser Richtung. Der Zug der vorangegangenen Ereig- 
nisse, der Mangel an politischer Bildung, die rastlose Thätigkeit der 
revolutionären Partei wirkten zusammen, die Nation in der Anschauung 
befangen zu erhalten, daß es vor allem aus ihre Aufgabe sei, das Reich 
zu vervollständigen und dazu gehörte nicht bloß Rom, das die ganze 
katholische Welt für sich in Anspruch nahm, nicht bloß Venedig, das 
Oesterreich mit gewaltiger Heeresmacht festhielt, die nationale Phantasie 
schweifte selbst darüber hinaus und sprach Wälschtyrol, Triest, Istrien, 
Dalmatien und Tessin als italienische Gebiete an. Die venetianische Frage 
zwar ruhte: die Nation wie die Regierung mußten einsehen, daß Italien 
noch zu viel schwach sei, um eine gewaltsame Lösung auch nur zu ver-
	        
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