Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dritter Jahrgang. 1862. (3)

92 
Deutschland. 
durch offene Erörterung der hierüber bestehenden Meinungsverschiedenheiten 
nicht blos die Kenntniß des beiderseitigen Standpunktes erleichtert, sondern 
auch der Weg angebahnt werden kann, zu einer Verständigung zu gelangen, 
welche diesseits nur gewünscht werden kann und durch Aenderung einiger 
Bestimmungen des proponirten Vertrages mit Frankreich und Rücksicht- 
nahme auf den Februarvertrag mit Oesterreich auch wohl ohne beson- 
dere Schwierigkeiten herbeigeführt werden könnte. 
„ . Ich komme schließlich zu dem wichtigsten Punkte der Depesche vom 
26. August, nämlich zu dem am Ende derselben enthaltenen Ausspruche, daß 
das preußische Ministerium eine definitive Ablehnung der Verträge vom 2. 
v. Mts. als den Ausdruck des Willens auffasse, den Zollverein mit Preußen 
nicht fortzusetzen. Dieser inhaltschwere Ausspruch gibt in mehr als einer 
Beziehung Anlaß zu ernsten Betrachtungen. Zunächst darf wohl nicht außer 
Acht gelassen werden, daß nicht die bayerische Regierung es ist, welche eine 
Aenderung des bisherigen Vereinstarifs-Systemes verlangte; sie hat ihrer- 
seits zu den entstandenen Meinungsdifferenzen nicht die mindeste Veranlas-= 
sung gegeben, und jener Ausspruch möchte daher richtiger wohl dahin gefaßt 
werden müssen, daß das preußische Ministerium die Absicht erklärt, den 
Zollverein mit denjenigen Vereinsregierungen, welche seine Forderungen nicht 
annehmen wollen, nicht fortzusetzen. Auf der andern Seite liegt die Frage 
nahe, was mit jenem Ausspruche eigentlich beabsichtigt werde? Zu einer 
Kündigung der Vereinsverträge, die erst nach 3 Jahren ablaufen, lag der- 
malen keine Veranlassung vor, und ob bis zur vertragsmäßigen Kündigungs- 
frist die Verhältnisse und gegenthelligen Ansichten noch dieselben sein werden, 
wie jetzt, steht noch in Frage. Es muß daher bei jenem Ausspruche ein 
augenblicklicher Zweck in das Auge gefaßt worden sein. Es steht mir 
nicht zu, denselben näher zu analysiren; fasse ich aber die Situation vom 
rein thatsächlichen Standpunkte auf, so kann ich dieselbe nur so bezeichnen, 
daß auf der einen Seite eine totale Umänderung des ganzen Tarifssystemes 
des Zollvereines und gleichzeitig eine Abweichung von den Principien des 
Vertrages vom 19. Februar 1853 verlangt wird, während auf der anderen 
Seite Bayern und einige andere Vereinsregierungen diese Abänderung für 
zu weit gehend und die Abweichung vom Vertrage von 1853 für unzulässig 
erachten. Während also die Letztern bei Ablehnung des französischen Ver- 
trages von einem unzweifelhaften und bisher unbestrittenen Rechte Gebrauch 
machen, ist die Erklärung des k. preußischen Ministeriums, daß es unbe- 
dingt auf seiner Forderung beharre und mit den dissentirenden Regierungen 
den Zollverein nicht fortzusetzen gedenke, thatsächlich der Ausspruch, daß es 
die Geltendmachung eines Rechtes von Seite anderer Vereinsmitglieder, 
welche seinen Ansichten nicht entspricht, nicht zu gestatten und lieber den 
Zollverein aufzulösen beabsichtige. Die Betrachtung der Sachlage von einer 
andern Seite führt zu einer analogen Schlußfolgerung. Es wird erlaubt 
sein zu fragen, worauf eigentlich die k. preußische Regierung bei dem vor- 
liegenden Vertrage den prädominirenden Werth lege, ob auf die durch den- 
selben vertretenen national-wirthschaftlichen Grundsätze oder auf das ver- 
tragsmäßige Verhältniß zu Frankreich. Ersteren Falles kömmt zu bedenken, 
daß sie denselben Zweck, zwar nicht in derselben Ausdehnung, aber doch im 
Wesentlichen, durch die mehrseitig vorgeschlagene selbstständige Tarifs-Re- 
vision zu erreichen vermag. Legt sie aber besonderen Nachdruck auf die Fest- 
stellung eines vertragsmäßigen Verhältnisses zu Frankreich, so kann dies 
doch unmöglich so gemeint sein, daß sie um dieses Zweckes willen einerseits 
jede nähere Verbindung mit Oesterreich und deren unverkennbare national- 
wirthschaftlichen Vortheile zurückweisen, andererseits aber der Ueberzeugung 
ihrer Mitverbündeten mehr oder minder Zwang anthun und dieselben in 
der Geltendmachung ihres Rechtes beschränken, oder, falls sie auf dieser be- 
harren, den Verein mit denselben auflösen wolle. Von welcher Seite ich
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.