Preußen und der norddeutsche Bund. 39
Gefüge des Schildes der Verfassung nicht locker werden, keine Lücke entstehen
zu lassen. Die zweite Frage ist die: Erweisen sie wirklich der Regierung
wider Ihren Willen einen Dienst, indem sie ihr einen geräumigeren Zeitraum
verschaffen und die Einführung der Verfassung zum 1. October hindern?
Ich gebe zu, der Zeitraum ist ein kurzer und an der Verfassung wird gewiß
Jeder in seinem Sinne eine Verbesserung wünschen. Daß sie deren bedürftig
ist, hat Niemand mehr anerkannt, als ihr Begründer, der hochselige König
Friedrich Wilhelm IV. Aber meine Herren, wir haben keine andere Ver-
fassung wie diese. Verfallen wir nicht in den Fehler unserer Gegner, daß
wir die historische Entwicklung, vermöge deren wir bis zu dem heutigen
Tage gelangt sind, ignoriren, daß wir nicht nach den gegebenen Unter-
lagen, sondern nach den wünschenswerthen handeln. Im gegenwärtigen
Moment der Krisis der deutschen, der möglichen Krisis europäischer Verhält-
nisse, in dem Moment vorzugsweise die Aenderung und Reform der Verfassung
ins Auge zu fassen — über diesem Bestreben die Verhältnisse im Lande
zweifelhaft und unsicher werden zu lassen, halte ich nicht für wohlgethan. Es
findet sich vielleicht später dafür der Augenblick. Eine Nation, die sich
definitiv constituirt hat, die fertig ist mit ihren auswärtigen Aufgaben,
kann Verfassungskämpfe ohne Schen herantreten lassen. Wir haben aber den
Kampf, der uns vier bie fünf Jahre beschäftigt hat, erst in diesem Jahre
zum Beschluß gebracht und es wäre nicht wohlgethan, in diesem Augenblick
den Conflict wieder heraufzubeschwören, nicht wohlgethan, die Ungewißheit
der Zustände der neuen Länder über das Nothwendigste hinaus zu verlängern.
Der Zeitraum ist kurz bis zum 1. October, hoffentlich aber ausreichend.
Ein noch kürzerer wäre mir lieber. Die preußische Verfassung ist, so gut
oder schlecht sie ist, das wirksamste Bindemittel, welches wir dem vergrößerten
Staate bieten können. Nichts ist geeigneter, die Verschmelzung der wider-
strebenden Elemente zu fördern, als gemeinsame Arbeit an der gemeinsamen
Aufgabe. Die Herren werden manche Vorurtheile fallen lassen, wenn sic erst
mit uns gemeinsam an der nationalen Aufgabe thätig sind. Diesen so zu
sagen den Deckel des Kastens sehr lange offen stehen zu lassen in jetziger
Zeit, halte ich nicht für nützlich. Je früher wir den Abschluß nach dieser
Seite hin und nach der Seite des norddeutschen Bundes erreichen, desto ge-
sicherter, desto zugeknöpfter gehen wir dem etwaigen schlechten Wetter der Zu-
kunft entgegen. Aus diesem Grunde auch betreibt die Regierung, so viel sie
kann, den Zusammentritt des norddeutschen Parlaments. Es ist eine schwere
Ausgabe für die Regierung, unmittelbar aus einer parlamentarischen Cam-
pagne in die andere überzugehen. Nichts desto weniger hat sie sich dazu
entschlossen, weil sie überzeugt ist, daß der Verzug schadet. Ebenso sieht sie
Gefahr im Ausschube der Constituirung eines verfassungsmäßigen Gemein-
wesens, an dem die neuen Länder in vollem Maße Theil nehmen, und deß-
halb stellt sie sich selbst die Aufgabe, in den acht Monaten, die wir noch
haben, mit der Organisation, die der Anwendbarkeit der Verfassung in den
neuen Ländern vorangehen muß, sertig zu sein. Sollte wider Erwarten dies
mißlingen, so würde sie es vorziehen, vor jener Frist die Häuser des Land-
tages noch einmal zusammen zu berufen, um einen Aufschub der Verfassungs-
Einführung zu beantragen. Sie hofsft aber, nicht in diese Lage zu kommen.“
v. Meding und v. Brüneck meinen, wenn diese Aeußerungen des Minister-
präsidenten in der Commission abgegeben worden wären, man sich die uner-
quicklichen Gründe erspart hätte. v. Kleist-Retzow dagegen findet, die
Debatten seien so lebendig, erfrischend und erquicklich gewesen, daß er nur
wünschen möchte, sie wiederholten sich wenigstens jede Woche einmal. Es
werde schon die Zeit kommen, wo die Regierung das Herrenhaus wieder
brauchen werde und dann würden auch diese Debatten segensreiche Folgen
haben.
Bei der Abstimmung wird das Amendement Kröcher mit 54 gegen