Rußland. 423
Hatt-Houmajoun von 1856, der bis heute nicht zur Ausführung ge-
langt sei und in Wahrheit auch gar nicht ausführbar sei, hatte zu-
gehen lassen, legt sie denselben ein weiteres Memoire vor, in denen
sie ihre positiven Vorschläge für die Reconstruction der Türkei und
die Mittel, um die wirkliche Befriedigung ihrer christlichen Be-
völkerungen zu erzielen, vorlegt.
Das Memeire geht davon aus, daß die Elemente einer Lösung der
türkischen oder orientalischen Frage in den historischen Traditionen der Türken
und in den Sitten der Muselmanen selbst gesucht werden müßten. Es handle
sich darum, eine sociale, politische und administrative Ordnung der Dinge
zu gründen, die den resp. Ansprüchen der Christen und der Muselmanen des
Reichs entspreche, ihre Existenz neben einander zu organisiren, ohne darum
die einen den andern zu opfern, vielmehr beiden alle nur mögliche Ent-
wickelung unter der gemeinsamen Oberhoheit des Sultans zu sichern. Erst
seit höchstens vierzig Jahren hätten die Türken die Assimilirung der ihnen
unterworsenen christlichen Völkerschaften unternommen. In der Meinung,
durch Adoption eines Systems der Absorption und Centralisation der ceuro-
xäischen Civilisation Bahn zu brechen, hätten sie seit jener Zeit die christl.
Völkerschaften ihrer communalen und provinzialen Autonomie beraubt, deren
sie sich bis zu Anfang dieses Jahrhunderts in mehr oder weniger befriedi-
gender Weise erfreuten. Es sei Thatsache, daß gerade von jener Epoche an
die inneren Unruhen in der Türkei gewissermaßen chronisch geworden seien.
Das Memeire schildert hierauf einige noch gebliebene Ueberreste jener früheren
Ordnung der Dinge, um zu beweisen, daß es keineswegs unmöglich sei, die
administrative Autonomie der christlichen Völkerschaften des Orients mit der
Aufrechthaltung der Autorität des Sultans in Einklang zu bringen. „Um
dahin zu gelangen, ist es keineswegs nothwendig, sich auf das Gebiet des Un-
bekannten und Ungewissen zu berufen. Es ist dazu keineswegs erforderlich,
das Gebäude des ottomannischen Staats umzustürzen oder zu zerstören unter
dem Vorwande, es ganz neu ausbauen zu wollen. Es genügt dazu, es von
gefährlichen Ueberbauten, die seine Solidität gefährden, zu befreien und durch
Combinationen zu stützen, die seinen Grundelementen wie seinem ursprüng-
lichen Plane entsprechen. Das kais. Cabinet schlägt daher die Prüsung einer
zusammenhängenden Reihe von Maßregeln vor, deren allgemeine
Züge sich ungefähr folgendermaßen resumiren ließen:
„I. Geographische Eintheilung, Gruppirung der Be-
völkerungen. Die alten geographischen Eintheilungen des ottomannischen
Reichs entsprechen den verschiedenen Gruppen der unterworfenen Bölker=
schaften. So oft die Sultane ein Volk bezwungen hatten, fesselten sie das-
selbe an das Reich durch eine Art Lehensband, legten ihm einen Tribut auf
und siellten zuweilen einen muselmannischen Chef an seine Spitze, aber sie
ließen die Grenzen desselben und seine nationale Organisation unangetastet.
Die neuliche Organisation von Vilayets hat dieser alten Ordnung der Dinge
Eintrag gethan und es wäre von Wichtigkeit, davon wieder abzukommen, in-
dem man ebenso viele Provinzen bilden würde, als es hauptsächlichste
Gruppen von Nationalitäten gibt, die unter dem Scepter des Sultans
stehen. So würde die gemischte Gruppe Rumeliens, mit einem Theile Ma-
cedoniens die erste Provinz bilden, Bulgarien die zweite, Bosnien Herze-
gowina, Albanien und die benachbarten Paschaliks des alten Serbiens die
dritte, Epirus, das südliche Albanien, Thessalien und ein Theil Macedoniens
die vierte, endlich die sämmtlichen Sporaden mit Chio als Vorort die fünfte
insulare. Jede dieser Gruppen, deren genaue Abgrenzung den Gegenstand
eines besonderen Studiums zu bilden hätte, scheint ihre eigenen geographi-
schen, cthnographischen und religiösen Existenzbedingungen darzubieten. Es